Norbert Miller über Goethe in Italien

Das Gefühl des Perpendikels

Norbert Miller trägt Goethe ins Klassenbuch ein.

Bildungsreisen sind, an ihren Intentionen gemessen, völlig vergeblich. Weder Bildung noch Wissen gewinnt der Reisende hinzu, denn was er weiß oder zu wissen sich einbildet, das sieht er bloß wieder, und was ihm fremd ist, das sieht er nicht. Bildungsreisen nähren Vorurteile. Das spricht noch nicht gegen die Reiseliteratur, aber doch gegen manche Reisende; und meinem Vorurteil, dass, um zwei der bekanntesten Reisenden zu nennen, Sternes und Stendhals Vorurteile sympathischer sind als die Goethes, gibt eine umfängliche Studie von Norbert Miller Nahrung.

»Der Wanderer. Goethe in Italien« klappert die komplette Route der »Italiänischen Reise« ab, ein oft, aber selten mit solcher Penibilität geübter bildungsbürgerlicher Sport. Was Goethe gesehen, aber auch, was er übersehen hat, was er notiert und was er verworfen hat, wen er traf, mit wem er sich befreundete und wen er wieder verstieß, wer ihm die Koffer hinterhertrug oder wer sich seiner Avancen erwehren musste, wird mit Detailversessenheit ausgebreitet, kommentiert und, damit nichts verloren gehe, mehrfach wiederholt. Im ersten Satz fehlt ein Gedankenstrich und in den restlichen fehlen die Gedanken, aber an Realien lässt es Miller nicht mangeln. Nein, er weiß, so scheint es wenigstens mir als einem Nichtkenner Goethes, schlichtweg alles über die »Italiänische Reise«.

Millers Titel bezieht sich auf den eines Italiengedichts, geschrieben 1771, »vor der Abreise ans Wetzlarer Kammergericht«. Er ist gut gewählt, denn in diesem Gedicht hat Goethe seine Italienerfahrung fast vollständig niedergelegt - 15 Jahre, bevor er zum ersten Mal italienischen Boden betritt. Es erkennt in Italien die, wenn auch vernachlässigten Zeugnisse einer antiken Kultur (»Von dem Moos gedeckt ein Architrav«), die Spannung zwischen opulenter Natur und opulentem Kulturerbe (»Schätzest du so, Natur, / Deines Meisterstücks Meisterstück? / Unempfindlich zertrümmerst du / Dein Heiligtum?«), seine fixe Idee von einer »Urhütte« als dem Ursprung des Bauens (»Hast deine Kinder alle mütterlich / Mit Erbteil abgestattet, einer Hütte«), die Italiener als ein naives, all diese Reichtümer nicht achtendes, gleichwohl glückliches Volk, repräsentiert von einer ihr Kind säugenden Frau (»Süß ist deine Ruh! / Wie's, in himmlischer Gesundheit / Schwimmend, ruhig atmet!«) und nicht zuletzt den, der diesem Arkadien zu seiner Vollkommenheit noch fehlte, den »Wandrer«, der Natur, Kultur, Architektur, Frau, Kind und Italiener mit sicherem Blick einschätzen und würdigen kann, Goethe selbst. »Et in Arcadia ego.«

Miller sieht eine »innere Nähe« des »Wandrers« zum »Traveller« des Iren Oliver Goldsmith, doch wenn auch dessen berühmtes Gedicht ebenfalls von einer Italienfahrt handelt, ist es von anderem Zuschnitt (es beginnt »Remote, unfriended, melancholy, slow« und endet »Why have I stray'd from pleasure and repose / To seek a good each government bestows?«) und entbehrt der Beschaulichkeit. Entscheidend dürften heimische Einflüsse sein, die italienischen Radierungen in Johann Caspar Goethes Haus und nicht zuletzt dessen eigenes Italienbuch, »Viaggio per l'Italia« (1768; erste Veröffentlichung Rom 1932/33). Hinzu kommt die vom Vater eingeschärfte Vorstellung, ein Gentleman müsse, um seine Erziehung abzuschließen, den »vorgebahnten Pfaden der grand tour« (Miller) folgen.

Ohne die Freunde, die Geliebte und den Arbeitgeber, also Familie Herder neben anderen, Frau von Stein und Herzog Carl August, von seinem Vorhaben ins Bild zu setzen, reist der Wanderer am 3. September 1786, um drei Uhr früh, ab, in seinem Gepäck nur Kleidung und die »Historisch-kritischen Nachrichten von Italien« (Leipzig 1770/71) von Johann Jacob Volkmann, ein dreibändiger Reiseführer, dessen Anweisungen er auf den ersten Etappen fast sklavisch befolgt.

Nicht auf alles bereiten ihn Volkmann und die väterlichen Veduten vor. Kaum hat er den Brenner überschritten, erwartet ihn eine erste unangenehme Überraschung. »Hier ist was zerstört, hier was angekleckt, hier stinkts, hier rauchts, hier ist Schmutz pp so in den Wirtshäusern, mit den Menschen pp.« Anders als 200 Jahre nach ihm Rolf-Dieter Brinkmann (»Rom, Blicke«), der aus dem Schimpfen auf den italienischen Schmutz nicht mehr herauskommt, ist Goethe fest entschlossen, ihn idealisch zu läutern. »Der Genuss auf einer Reise ist wenn man ihn rein haben will, ein abstrakter Genuss, ich muß die Unbequemlichkeiten, Widerwärtigkeiten, das was mit mir nicht stimmt, was ich nicht erwarte, alles muss ich bei Seite bringen, in dem Kunstwerk nur den Gedanken des Künstlers, die erste Ausführung, das Leben der ersten Zeit da das Werk entstand heraussuchen und es wieder rein in meine Seele bringen, abgeschieden von allem was die Zeit, der alles unterworfen ist und der Wechsel der Dinge darauf gewürkt haben. Dann habe ich einen reinen bleibenden Genuss und um dessentwillen bin ich gereist, nicht um des Augenblicklichen Wohlseins oder Spaßes willen.« Er will durch Überhöhung das tatsächliche Italien mit dem anakreontischen des »Wandrers« in Übereinstimmung bringen.

Um diese Idealisierung zu erreichen, bedarf es einer »Arbeit an der Erkenntnis«, die insgesamt 30 Jahre andauert; erst 1816 erscheint der erste Teil der »Italiänischen Reise«. Zwar entsteht sie auf der Grundlage alter Aufzeichnungen und Briefe, doch das Rohmaterial wird so rücksichtslos zerschnitten, verändert und »Zeile für Zeile ausgemerzt«, dass für Erich Schmidt, der es in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts als einer der ersten begutachtet, die »Objectivirung des Vergangenen (...) beim ersten Anblick etwas Erschreckendes« hat (zit. n. »Goethe-Handbuch«, Bd. 3, Stuttgart / Weimar 1997). Goethe hätte später »das protestantische Ethos« dieser Objektivierung »belächelt«, ist also eine Behauptung Millers, die wenig begründet scheint, und auch er selbst folgt dem von Denkmal zu Denkmal Eilenden und seine Eindrücke antikisch-klassisch Ausarbeitenden und Abfeilenden nicht nur beflissen, sondern schilt ihn jedesmal aus, wenn er an irgendeinem Meilenstein, der im Volkmann steht, vorbeitrampelt oder sich dem Sinnlichen ungezügelt hingibt. Er ist nicht Goethes Reisebiograf, sondern sein schlechtes Gewissen.

Einen grotesken Höhepunkt erreicht Millers Manier, als er auf Goethes Besuch in der Villa Palagonia bei Palermo eingeht, deren alptraumhafte Gebäude und Gestalten von einem wahnsinnigen Fürsten errichtet wurden und den notorisch im Lot denkenden Goethe abstoßen müssen. »Heute den ganzen Tag beschäftigte uns der Unsinn des Prinzen Pallagonia, und auch diese Thorheiten waren ganz etwas anders, als wir uns lesend und hörend vorgestellt. Denn bei der größten Wahrheitsliebe kommt derjenige, der vom Absurden Rechenschaft geben soll, immer in's Gedränge: er will einen Begriff davon überliefern, und so macht er es schon zu etwas, da es eigentlich ein Nichts ist, welches für etwas gehalten sein will. (...) Das Widersinnige einer solchen geschmacklosen Denkart zeigt sich aber im höchsten Grade darin, dass die Gesimse der kleinen Häuser durchaus schief nach einer oder der andern Seite hinhängen, sodass das Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurhythmie ist, in uns zerrissen und gequält wird«, heißt es in der »Italiänischen Reise« (»Werke«, I, 31, Weimar 1904).

Nach einem Jahrhundert der Beschäftigung mit der Bildnerei der Geisteskranken, nach Art Brut und Gugging hätte der Leser eine wenigstens vorsichtige Korrektur der goethischen Einschätzung erwarten dürfen, allein, Miller nimmt gerade daran Anstoß, dass Goethe zu lange in der Villa verweilt. »Während ihn wie immer die Zeugnisse des Hochmittelalters nicht berührten, während er achtlos an den Mosaiken der Normannenherrschaft und an den Kaisergräben des Doms vorüberging, ließ er sich seitenlang über die Theatermasken und das mythische Gezücht der Steinfiguren aus, die in geordnetem Wirrwarr von allen Mauern der Villa auf den umherirrenden Besucher niederglotzten.« Und seitenlang lässt sich nun der Goetheaner über die »gebaute Tobsucht«, die »zwanghafte Phantastik«, das »tollhäuslerische Bilddenken«, den »ansteckenden Aberwitz«, Palagonias »Willkür« aus, die »rasch ins Krankhafte« ausgreife. Schlimmer als Goethe sind immer noch die Goetheaner.

Bemerkenswert ist, wie leichtfüßig Miller dagegen über tatsächliche Beweise von Banausentum hinwegeilt. Der Ritter Filangieri, dem der Reisende in Neapel begegnet, weist diesen auf Vicos »Scienzia nuova« hin. Doch Goethe kann im Hauptwerk eines der bedeutenden Philosophen seines Jahrhunderts nicht mehr als »sibyllinische Vorahndungen« erkennen; sein Schatten beschwichtigt, das sei »kein ehrenrühriger Vergleich in einem so nahe der Sibyllen-Grotte von Cumae gelegenen Landstrich«. Möglich. Und immerhin entgeht Vico so dem Schicksal Spinozas, den sich der Dichter der Deutschen tatsächlich zu Eigen macht und so gründlich missdeutet und misshandelt, dass die Folgen dessen noch heute allenthalben sichtbar sind.

Da er schon nicht lesen will, flirtet er wenigstens mit des Ritters schöner Schwester. Im Süden Italiens lebt der Frankfurter überhaupt recht ungeniert und bildet sich ein, Teil des Volkes, einer jener einfachen Menschen zu sein, »die sich beinahe als Wilde betrugen«. Die Entwicklung dazu setzt freilich schon früher ein.

Je weiter das Kind von des Vaters Haus kommt, umso weniger fühlt es sich an dessen Beispiel gebunden, ja, mit einem gewissen Trotz schlendert es erst und rast schließlich an den allerberühmtesten und lehrreichsten Stätten vorbei; »Verona, Vicenz, Padua, Venedig habe ich gut, Ferrara, Cento, Bologna flüchtig und Florenz kaum gesehn. Die Begierde nach Rom zu kommen war so groß, wuchs so sehr mit jedem Augenblicke, dass kein Bleibens mehr war, und ich mich nur drei Stunden in Florenz aufhielt«, wo er, wie Miller ins Klassenbuch einträgt, »Dom und Baptisterium, die Bauten Brunelleschis und Leone Battista Albertis, das Heranwachsen der Bildhauerkunst von Lorenzo Ghiberti über Donatello und Verocchio bis zum jungen Michelangelo« versäumt.

Nur mit der Begierde, rasch nach Rom zu kommen, ist seine Eile nicht zu erklären. Den heidnischen Protestanten, der sich noch nicht zum protestantischen Heiden gewandelt hat, stößt das Barocke in der Kunst, das Illusionistische und Theaterhafte, kurz das Katholische, ab. Bei einer solchen Abneigung wäre er wohl besser nach Dänemark gereist, und auch das päpstliche Rom kommt solchem Geschmack wenig entgegen. Er empfindet es auch bald als »altes, übelplaciertes Kloster«. Der Unmut wächst. »Aus Volkmanns Band über Rom zieht Goethe alle Orte und Kunstwerke heraus, die er bislang noch nicht gesehen hat und die er sich für seine Rückkehr als Pflichtübung aufgeben will. Aber nur selten springt der Funken der Begeisterung auf ihn über.«

Der Biograf des Autobiografen kennt noch einen »tieferen« Grund für dessen römische Verstimmung. »Mit dem schönen Geschlecht kann man sich hier, wie überall, nicht ohne Zeitverlust einlassen. - Die Mädgen oder vielmehr jungen Frauen, die als Modelle sich bei den Malern einfinden, sind allerliebst mitunter und gefällig, sich beschauen und genießen zu lassen. Es wäre auf diese Weise eine sehr bequeme Lust, wenn die französischen Einflüsse nicht auch dieses Paradies unsicher machten.« (Unter »französischen Einflüssen« versteht der deutsche Klassiker Geschlechtskrankheiten.) Miller merkt an: »Wie unter Reisenden von Stand üblich, hatte es auch Goethe unterwegs nicht verschmäht, gelegentlich Prostituierte aufzusuchen und über seine Ausgaben dabei knapp Buch zu führen.«

Da wohlfeile und gesunde Gretchen nicht zur Hand sind, lässt er sich auch einmal auf eine junge Frau aus gutem Hause ein, Madalena Riggi, die »schöne Mayländerin«. »Seiner früheren Wirkung auf junge Damen der Gesellschaft gewiss«, geht er sie gleich am Abend ihres Kennenlernens an und verliebt sich versehentlich. Eine Zügellosigkeit, für die er sofort zahlen muss, denn die Mailänderin ist bereits verlobt und ernste Absichten verfolgt Goethe nicht, der der Geschichte im Rückblick einen günstigeren Ausgang gibt, als sie vermutlich gehabt hat.

»Als ich vor die Türe kam, fand ich meinen Wagen ohne den Kutscher, den ein geschäftiger Knabe zu holen lief. Sie sah heraus zum Fenster des Entresols, den sie in einem stattlichen Gebäude bewohnten; es war nicht gar hoch, man hätte geglaubt, sich die Hand reichen zu können. 'Man will mich nicht von Euch wegführen, seht Ihr', rief ich aus, 'man weiß, so scheint es, dass ich ungern von Euch scheide.' Was sie darauf erwiderte, was ich versetzte, den Gang des anmutigsten Gespräches, das, von allen Fesseln frei, das Innere zweier sich nur halbbewusst Liebenden offenbarte, will ich nicht entweihen durch Wiederholung und Erzählung.« Diese, bis der Kutscher aus der Kneipe gezogen ist, hin und her gerufenen Freundlichkeiten hat Goethe angeblich nie vergessen.

Auch in erotischer Hinsicht hält die Reise also nicht, was sich der Reisende von ihr versprochen hat, und muss nachgebessert werden. Als er, nach Weimar zurückgekehrt, Roma von hinten anschaut, begegnet er endlich Amor. Er gabelt Christiane Vulpius auf, sein »Eroticon«, der er bereits auf der Reise entworfene Verse zueignet. Frau von Stein muss weichen, »Erotica Romana« entstehen, galante Gedichte, die, nachdem sie genügend geläutert und »die Priapea sekretiert« (Miller) sind, als »Elegien. Rom 1788« erscheinen.

»Ganz neue Gedanken« hat Goethe, wie er selbst bekennt, auf der Reise nicht gehabt, »aber die alten sind so bestimmt, so lebendig, so zusammenhängend geworden, dass sie für neu gelten können.« Und so sieht der frischeste Fund, den er unterwegs macht, wie ein alter Hut aus. »(Tags) darauf machte er seine große Entdeckung. Im Studium einer kleinen Fächerpalme tauchte der Gedanke der Urpflanze in ihm auf. Unversehens glaubte er Beweise gefunden zu haben, dass trotz der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickelt haben könnten.«

Goethe kann sich kaum genugtun, diese Entdeckung, die gleichwohl eine seiner Phantasie ist, zu preisen. »Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll.« Das Neue besteht darin, dass sein ohnehin organizistisches Denken, das im »Wandrer« noch Natur und Kultur im Widerspruch gesehen hat, diese nun mit einem Taschenspielertrick versöhnt und das Idyll so vervollkommnet.

Darauf, dass »ein gleiches Gesetz in der Entwicklung des Alls wie in der Entfaltung der Urpflanze, in der griechischen Anschauung der schönen Natur und in jedem vollendeten Meisterwerk der Kunst walte« (Miller), hätte er auch zu Hause kommen können. Aber ist er nicht eigentlich zu Hause geblieben? 1770 schreibt Goethe an Langer: »Paris soll meine Schule seyn, Rom meine Universität.« In Wahrheit sitzt er ein Leben lang am Main fest.

Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien. Carl Hanser, München / Wien 2002, 731 S., 50 Euro