»Die Shoah kann sich wiederholen«

Yehuda Bauer ist einer der renommiertesten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Holocaust- und Antisemitismusforschung. Er wurde 1926 in Prag geboren und emigrierte 13 Jahre später mit seiner Familie nach Haifa. Von 1982 bis 1995 war er der Direktor des Sassoon International Center Study of Antisemitism und der Herausgeber des »Journal of Holocaust and Genocide Studies«. Zur Zeit arbeitet er als wissenschaftlicher Berater des International Centre for Holocaust Studies in Yad Vashem, dessen Leiter er von 1996 bis 2000 war.

Sie gehen in ihren Veröffentlichungen davon aus, dass die Shoah nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart ist. Was meinen Sie damit?

Der Kontext, in dem die Shoah stattgefunden hat, existiert noch heute. Die Probleme des Genozids, auch die erneuten Bedrohungen der Juden, sind eine direkte Verlängerung der Probleme, die die Shoah hervorgerufen haben. Die Shoah war die extremste Form des Genozids, weil die Vernichtung total sein sollte. Jeder Mensch, der von den Nationalsozialisten als Jude definiert wurde, sollte getötet werden, und zwar überall auf der Welt. Die Shoah war zwar präzedenzlos, aber sie selbst war ein Präzedenzfall. Daraus folgt, dass die Shoah sich wiederholen kann.

Könnte das nicht als eine Relativierung der Verbrechen, die die Deutschen an den Juden begangen haben, verstanden werden?

Nein, im Gegenteil. Ich glaube, dass die Shoah darauf hinweist, dass die menschliche Gesellschaft im Stande ist, etwas Derartiges zu wiederholen. Das ist keine Relativierung, sondern eine Kontextualisierung der deutschen Verbrechen.

Stellt der Islamismus eine tödliche Bedrohung für Israel oder sogar für die Juden in der ganzen Welt dar?

Radikale Islamisten setzen Israel und Juden in eins. Israel wird als der kollektive Jude angesehen, mit dem alle Juden verbunden seien. Israel gilt als Kolonie der Juden. Es wird behauptet, dass die Juden eine Gefahr seien, weil sie den Westen beherrschen und eine fürchterliche Bedrohung für die Menschheit darstellen. Das ist genau dasselbe, was die Nazis gesagt haben.

Sie würden also den radikalen Islamismus mit dem Nationalsozialismus vergleichen?

Es gibt riesige Unterschiede, aber es gibt auch Parallelen. So das Bemühen, alle Gegner zu besiegen und die Weltherrschaft zu erringen. Außerdem die Abschaffung der normativen Gesellschaften inklusive der Nationalstaaten. Dieser Islamismus richtet sich ja auch gegen die arabischen Nationalstaaten, er will eigentlich alle staatlichen Gebilde abschaffen. Stattdessen sollen islamische Gesellschaften installiert werden, die von Priestern regiert werden. Da alle Gesetze von Gott gegeben sind, braucht die Welt keine Demokratie. Man kann ja nicht gegen Gott abstimmen. Eine Mehrheit, die mit einer Abstimmung irgendetwas verändern würde, wäre gegen Gott gerichtet.

Drittens wird es angestrebt, eine islamische Gesellschaft zu schaffen, die genau nach der mittelalterlichen islamischen Gesetzgebung funktioniert. Es gäbe dann beispielsweise keine Gleichberechtigung für Frauen. Damit sie auch nicht aufkommen kann, müssten die Menschen immer weiter unterdrückt werden.

Die auffälligste Gemeinsamkeit ist aber doch sicherlich der Antisemitismus, der sowohl im Nationalsozialismus als auch im radikalen Islamismus konstituierend ist.

Ja, da die Feindschaft gegen die Juden im radikalen Islamismus trägt genozidale Züge. Eine Wiederholung des Massenmordes an den Juden wird angestrebt, das kann man nachlesen. Eigentlich müssten wir inzwischen gelernt haben, dass Fanatiker, die so etwas sagen, auch daran glauben und es verwirklichen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. In Bezug auf den Judenhass gibt es Parallelen zum Nationalsozialismus und natürlich in der Tatsache, dass es Religionen sind. Der Nationalsozialismus war eine Quasi-Religion, der sowjetische Kommunismus übrigens ebenfalls. Der radikale Islamismus ist eine Radikalisierung gewisser Teile des Islam zu einer ganz neuen islamischen Auffassung.

Wenn man die Verlautbarungen der islamischen Fanatiker ernst nimmt, heißt das, dass die Anschläge am 11. September in den USA auch antisemitisch motiviert waren?

Ja, bestimmt waren sie das. Das World Trade Center wurde zum Teil deswegen ausgewählt, weil es der Sitz des so genannten Weltjudentums sein soll. Das sind natürlich Hirngespinste, aber solche Hirngespinste existieren seit ein paar tausend Jahren. Die Menschen entwickeln sowas, weil es ein menschlicher Instinkt ist, auf andere abzuwälzen, was die eigenen Probleme sind. Das ist nicht nur gegenüber den Juden so, das passiert auch in anderen Fällen.

Wenn es eine Lösung des Nahostkonflikts gäbe, wäre dann auch dem radikalen Islamismus eine der Grundlagen entzogen? Oder haben diese beiden Dinge gar nicht so viel miteinander zu tun?

Der radikale Islamismus wäre damit natürlich nicht verschwunden, aber er wäre geschwächt. Ich behaupte, dass man weder den Nahostkonflikt ignorieren kann, wenn man über radikalen Islamismus spricht, noch kann man sagen, das allein löst das Islamismus-problem. Aber es würde für eine Abschwächung des radikalen Islamismus und dessen Attacken auf die Juden und den Westen sorgen. Und das ist einer der vielen Gründe für einen Versuch oder für weitere Versuche, den Nahostkonflikt wenigstens zu mindern.

Was allerdings sehr schwierig ist, solange palästinensische Selbstmordattentäter in Israel oder neuerdings in Kenia Juden ermorden. Wie sollte man mit diesem Terrorismus umgehen?

Ich bin nicht gegen militärische Schritte, ich bin kein Pazifist. Aber was die jetzige Regierung macht, sind nur militärische Schritte. Man kann nicht allein mit reiner Gewalt eine nationale Befreiungsbewegung wie die palästinensiche bekämpfen. Man muss Kompromisse finden, auch wenn sie Methoden anwendet, die antihumanistisch, extrem brutal und unverantwortlich sind.

Aber sind das denn die Angriffe einer ganz normalen Befreiungsbewegung, oder sind sie nicht doch vor allem antisemitisch motiviert?

Ich glaube, die Angriffe von radikalen islamistischen Gruppen wie der Hamas oder dem Islamischen Jihad sind antisemitisch motiviert. Das sind genozidale Gruppen, die auch ganz offen sagen, dass sie Israel vernichten und alle Juden vertreiben wollen. Aber die Angriffe der Nationalisten, so brutal wie sie sind, sind nicht durch Antisemitismus definiert. Wenn man sich die Zeitungen anschaut, so muss man sagen, unter den Palästinensern ist der Antisemitismus viel weniger verbreitet als beispielsweise in Pakistan, Ägypten oder Saudi-Arabien.

Ist es nicht besonders beunruhigend, dass es auch in Europa in den letzten Jahren vermehrt antisemitische Übergriffe gegeben hat?

Wir erleben gerade die vierte antisemitische Welle seit 1945, aber ich glaube nicht, dass der westliche Antisemitismus im Gegensatz zum islamischen eine existenzielle Bedrohung für die Juden darstellt. Ich würde den Antisemitismus in Europa, Lateinamerika und Nordamerika mit einem gelben Skorpion vergleichen. Der gelbe Skorpion ist zwar bedrohlich, aber hinter uns steht ein Riese mit einer Holzkeule und droht uns zu erschlagen. Das ist viel gefährlicher.

Der islamische Antisemitismus ist ein zentraler Bestandteil einer Ideologie, die immer mehr um sich greift. Er richtet sich nicht nur gegen die Juden. Sie sind das erste Ziel, aber eigentlich ist es der dekadente Westen, den man besiegen und dessen Platz man einnehmen will. Er wendet sich auch nicht nur gegen Amerika, sondern gegen Deutschland, Frankreich, England und Osteuropa. Er ist eine existenzielle Gefahr.