For Everest Young

Vor 50 Jahren wurde der Mount Everest erstmals bestiegen. Heute gibt es dort andere Rekorde. von egon günther

Am Ende gab es sie doch, die zusätzlichen Rekorde, die wahrscheinlich nicht nur in alpinistischer Hinsicht so überflüssig sind wie ein Kropf.

Anlässlich des 50. Jahrestag der Erstbesteigung des Mount Everest überbot ein 70jähriger Japaner, der bereits einmal den Everest aus 8 000 Metern Höhe mit Skiern abgefahren war, den letztjährigen Rekord eines Landsmannes und ist nun vorläufig der älteste Mensch, der je auf dem 8 850 Meter hohen Gipfel des höchsten Berges der Welt stand.

Die nächste Bestmarke konnten Millionen Fernsehzuschauer sehen: die ersten Livebilder des geglückten Aufstieges einer chinesischen Crew, der von der tibetischen Seite ausging. Es war die erste Liveübertragung vom Gipfel, damit sie möglich wurde, waren zwei Kilometer Glasfaserkabel bis zum Gipfel verlegt worden.

Und nicht zuletzt wurde der erst 2001 aufgestellte Geschwindigkeitsrekord von 17 Stunden von dem 25jährigen Sherpa Pemba Dorja gebrochen, der in 12 Stunden und 45 Minuten, im Alleingang vom nepalesischen Basislager am Rande des Khumbu-Eisbruchs aufbrechend, auf dem Gipfel des Berges stand, der in seiner Sprache Chomolungma – Göttinmutter der Erde – heißt. Er brauchte dazu eine nepalesische Flagge, das gerahmte Bild eines buddhistischen Lama, einen kleinen Tagesrucksack sowie eine gehörige Portion Gleichmut gegenüber allen schlechten Wetterprognosen. Die übliche Zeit vom Basislager auf 5 500 Meter Höhe bis zum Gipfel beträgt etwa eine Woche.

Andere Rekorde, wie etwa der erste Schwarzafrikaner auf dem Gipfel, mussten zumindest vorläufig abgewartet werden, da starke Höhenwinde und Schlechtwetterprognosen bislang den massenhaften Ansturm von Bergsteigern immer wieder unterbrachen und die Seilversicherung des Südgrates verzögerten. Die riskanten Bedingungen zwangen die Expeditionen bislang dazu, ständig am Berg zwischen den verschiedenen Lagern auf- und wieder abzusteigen. Dadurch blieben die gefährlichen Staus an der schwierigsten Stelle im Aufstieg, dem Hillarystep, und auch die besonders schrecklichen Todesmeldungen, wie sie in den Jahren 1996 oder 2001/02 vermeldet wurden, aus: 1996 starben in einem Höhensturm drei Bergführer und zwei ihrer Kunden, insgesamt blieben in diesem Katastrophenjahr zwölf Menschen tot am Berg; 2001 drängelten sich an einem Tag 89 Bergsteiger auf dem Südgrat des Everest, 2002 waren es immerhin noch 64.

In diesem Jahr forderten durch die Höhe bedingte Krankheiten wie Lungen- und Hirnödeme und Erschöpfungszustände in der Todeszone oder die Gletscherspalten im Khumbu-Eisbruch offenbar (und bislang) weniger Tote und Verletzte als in den Vorjahren, trotz des gegenwärtig gewaltigen Auftriebs von 22 Expeditionen mit etwa 800 Beteiligten, von denen 250 eine Gipfelerlaubnis der nepalesischen Regierung besitzen.

Doch auch die vorläufige Bilanz des Ansturms auf den Everest liest sich bizarr: Ein Franzose starb bereits im Basislager, zwei Sherpas mussten verletzt aus einer Gletscherspalte evakuiert werden, ein Amerikaner brach sich ein Bein und wollte dennoch weitergehen.

Doch bevor sich das Wetterfenster im Himalaya für dieses Jahr schließt und Ende Mai beim Einsetzen des Monsuns die Zelte des Basislagers abgebrochen werden müssen, wollen es die verbliebenen Aspiranten noch einmal wissen und haben neue Termine für ihren Gipfelsturm angesetzt. Ein von einem deutschen Getränkehersteller gesponsertes Team will pünktlich am 29. Mai um 11.30 Uhr oben stehen.

An diesem Tag vor exakt 50 Jahren fand die Erstbesteigung dieses »Bastards« (Hillary) durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay statt. Außerdem ist es heuer 25 Jahre her, daß der Südtiroler Berghippie Reinhold Messner gemeinsam mit Peter Habeler den Berg ohne zusätzlichen Sauerstoff bezwang.

Am 29. Mai findet daher in Kathmandu vor aller Welt ein feierliches Treffen jener Veteranen statt, die schon einmal am »dritten Pol« standen, und auch Sir Edmund Hillary wird sich dort die Ehre geben.

Von allem Ungemach, das den Glanz eines solchen Jubiläumsevents beeinträchtigen könnte – Bedrohung durch Terror und Seuchen –, ist nur noch die Lungenkrankheit Sars übrig geblieben. Offenbar haben einige Bergsteiger aus Japan, China und Südostasien deshalb ihre Teilnahme an den Feierlichkeiten abgesagt. Die nepalesischen Guerilleros der Volksbefreiungsarmee (PLA) von der Communist Party of Nepal-Maoist (CPN-M) dagegen, die über ein Drittel des Landes kontrolliert, hatten bereits im Januar einen Waffenstillstand mit der königlichen Regierung geschlossen und damit ihren seit 1996 andauernden blutigen revolutionären Volkskrieg gegen die Hindumonarchie, der geschätzte 7 500 Menschenleben gefordert hat, vorerst ausgesetzt. (Jungle World, 20/03)

Die Nepal besuchenden Alpinisten und Trekker und die Teilnehmer an den Jubiläumsfeierlichkeiten wären aber sowieso kaum von den Kämpfen behelligt worden. Der Führer der CPN-M, Dr. Baburam Battharai, hat in einem offenen Brief bereits vor einem Jahr versichert, dass der Tourismus wegen der Natur- und Kulturressourcen des Landes in einem künftigen Nepal auf der Liste der wirtschaftlichen Entwicklungspolitik ganz oben stehen werde und Touristen deshalb heute und in Zukunft in diesem am Feudalismus leidenden, rückständigen, von tiefster Armut und vollkommener Unterentwicklung gezeichneten Land hoch willkommen seien. Honni soit qui mal y pense.

Der Everest, das wissen nicht nur die Maoisten, ist das touristische Kapital Nepals. Spätestens seit in den zwanziger Jahren die ersten britischen Bergsteiger sich an ihm versuchten und 1924, beim dritten Versuch, George Mallory und Andrew Irvine an der Nordflanke verunglückten, übt der Everest eine ungeheure Attraktion aus. Ob Mallory und Irvine, deren Leichen erst vor wenigen Jahren gefunden wurden, vielleicht schon vor ihrem Absturz am Gipfel waren, wird heiß diskutiert.

Hillary, der formelle Erstbesteiger von 1953, glaubte nach seiner damaligen, gemeinsam mit dem 1986 verstorbenen Sherpa Tenzing Norgay erbrachten Leistung, damit sei die Geschichte um die Besteigung des höchsten Berges der Welt endgültig ausgestanden. Tatsächlich half auch er mit, den Mythos weiter auszubauen.

Bereits der radikale Dichter, Seher und Maler William Blake (1757–1827) glaubte, den Kletterspleen seiner Landsleute vorwegnehmend und vielleicht beflügelnd: »Großartiges wird vollbracht, wo sich Mensch und Berg begegnen, dergleichen geschieht nicht im Trubel auf den Straßen.« Dass sich einmal auf den Gipfeln der Berge ein ziemlicher Trubel einstellen und dort gleichviel Großartiges, obschon überwiegend Sinnloses vollbracht werden wird, hätte er sich wohl niemals träumen lassen. So beeindruckt allein die schiere Größe der Zeltstadt, die jedesmal auf dem unwirtlichen und lebensfeindlichen Gelände eines Gletscherabbruchs errichtet wird, und der Lindwurm an Trägern, der sich bis Ende Mai vom Flugplatz Lukla weit unterhalb des Felsennests Namche Bazar in mehreren Tagesmärschen in Bewegung setzt, um den Zirkus der Gipfelaspiranten in den Camps mit Lebenswichtigem und Überflüssigem zu versorgen. Im Basislager gibt es bereits ein ständiges Internetcafé.

Immerhin, ihren Ruf als höchste Müllkippe der Welt scheint die Göttinmutter der Erde bald eingebüßt zu haben. Seit einem Jahrzehnt mühen sich jährliche Expeditionen damit ab, die Hinterlassenschaft der Bergsteiger, tonnenweise Abfall wie Sauerstoffflaschen, Zelte, Batterien, Nahrungspakete etc., zu Tal zu schaffen.

Die meisten der 175 Leichen der am Berg ums Leben gekommenen Alpinisten werden jedoch für immer in seinen Flanken liegenbleiben.

Ärgerlich an der medialen Verwertung des Ereignisses hierzulande war die vom ZDF ausgestrahlte Dokumentation »Weiße Hölle Himalaya«, die mit unvermittelten, Dramatik simulierenden Schnitten und reißerischen Kommentaren den Eindruck vermitteln wollte, es habe einen direkten und ausschließlich nationalistisch motivierten Wettlauf zwischen Deutschen und Engländern um die Erstbesteigung des Nanga Parbat, des »Schicksalsberges der Deutschen«, und des Mount Everest gegeben. Nicht einmal auf Leni Riefenstahl wurde verzichtet. Dabei fand selbst die unter der Herrschaft des Naziregimes 1934 an den Nanga Parbat geführte und gescheiterte Expedition noch mit Genehmigung und weit reichender Unterstützung der englischen Kolonialmacht statt, und es nahmen an ihr sogar zwei eigens von der indischen Regierung beurlaubte Offiziere teil. Der gegenseitige Respekt unter Ausnahmebergsteigern wie Hermann Buhl, dem 1953 die Besteigung des Nanga Parbat glückte, und dem unprätentiösen Edmund Hillary dürfte ohnehin größer gewesen sein als jede Rivalität.

Mir, als einem sich garantiert unterhalb der Todeszone bewegenden Menschen, der im Jahr der legendären Erstbesteigungen das Licht der Welt erblickt hat, blieb bislang jedenfalls immer das Paar Tenzing Norgay und Edmund Hillary gegenwärtig, und es schien auf ideale Weise den Aufbruch in eine andere Welt und in andere Höhen zu verkörpern. So stark, dass ich in meinem persönlichen Aufbruchsjahr 1969 ein Flugblatt, das gegen die wegen Aufsässigkeit erfolgte Relegation eines Mitschülers an der Schule verteilt wurde, mit dem Pseudonym Hillary unterschrieb.