Klein und allein

Wer vergessen hat, wie fies die Zeit der Kindheit und Jugend sein kann, kann sich mit Paula Fox’ autobiografischem Roman »In fremden Kleidern« erinnern. von maik söhler

Kind oder Jugendlicher zu sein, heißt nicht selten zu leiden. Leiden an Eltern, die einen nicht sein lassen können, wie man ist, an Älteren, die einen nicht verstehen, an Mitschülern, die einen hänseln, am anderen Geschlecht, das einen interessiert und das das Interesse so selten erwidert, kurz: es ist eine Zeit der Einsamkeit, der Zurückweisung, der Unterdrückung. Es braucht also keinen autoritären Vater, keine hysterische Mutter, keine prügelnde Erzieherin und keinen sadistischen Lehrer, um das Heranwachsen zu einer Erfahrung der Brutalität zu machen.

Verletzungen werden Kindern und Jugendlichen auch außerhalb der klassischen Kleinfamilie und jenseits der dörflichen oder kleinstädtischen Zwangsgemeinschaften zugefügt. Wie schmerzhaft und demütigend das Leben im Alter zwischen fünf und 15 auch für eine ist, die nicht allein von ihren Eltern erzogen wird und die an unterschiedlichen Orten aufwächst, die dem Terror des Engen also nicht ausgesetzt ist, zeigt Paula Fox’ autobiografischer Roman »In fremden Kleidern«.

Balmville, Hollywood, Long Island, Kuba, New York, Florida, New Hampshire, New York, Montreal, New York und Kalifornien sind die Stationen der jungen Paula, an die es sie ohne ihr Zutun verschlägt. Nur in Balmville ist sie halbwegs glücklich. Ein Pfarrer, der sich um sie kümmert und den sie Onkel Elwood nennt, macht der Fünfjährigen die Nachteile des Lebens in bescheidenen Verhältnissen durch intensive intellektuelle Anregungen mehr als wett. »Von einer Zuhörerin wurde ich zu einer Leserin«, beschreibt Fox diese Zeit. Als ihr Vater zum ersten Mal in ihrem Leben auftaucht, muss sie Balmville verlassen.

An den Orten, die folgen, sind manchmal ihre Eltern bei ihr, hier und da deren Freunde und Kollegen, gelegentlich ihre Großmutter oder andere Verwandte, oft ist sie allein. Ihr Vater schreibt Drehbücher, die Mutter ist Schauspielerin, beide kommen miteinander nur schlecht und mit ihrer Tochter überhaupt nicht klar. Ihre spätere Trennung berührt Paula nur, weil deswegen wieder einmal die Orte wechseln und neue Personen in ihr Leben treten. Das Zusammensein der Eltern war schlimmer als die Trennung, denn sie bleibt ihren Eltern und die Eltern bleiben ihr fremd.

Das ist für sie nicht ungewöhnlich. Egal wo Paula hinkommt, egal welche Schule sie besucht – allein bis zum zwölften Lebensjahr sind es neun verschiedene –, überall bleibt sie ausgeschlossen. Das liegt nur zum Teil daran, dass sie die Wohnorte wechselt wie ihre Mitschülerinnen die Schuhe. Das tun andere auch. Die zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind von der Massenmigration geprägt. Viele Europäer gehen aus politischen und ökonomischen Gründen in die USA, viele Amerikaner ziehen wegen der Wirtschaftsflaute in andere Städte oder fahren auf der Suche nach einem neuen Job durchs Land. Die politischen und ökonomischen Krisen jener Zeit erzeugen jede Menge Außenseiter.

In Long Island bleibt Paula ihren Mitschülern ein Rätsel, obwohl es dort viele Migrantenkinder gibt. Die Klassenkameraden »wussten nicht, was sie von mir halten sollten. Sie entschieden sich für halbherzige Maßnahmen, quälten mich von Zeit zu Zeit und waren freundlich zu mir, wenn sie vergaßen – wie es Kinder damals taten –, warum sie mich eigentlich quälten. Dann aber wurde ihre Aufmerksamkeit von mir abgelenkt durch die Ankunft zweier Jungen, ebenfalls ›Ausländer‹.«

Paula ist Amerikanerin, wird aber sowohl von ihrer Großmutter als auch von den Mitschülern zur Fremden gemacht. Sie nimmt die Zuschreibung an, isst zum Frühstück Knoblauchbrot und richtet sich mit den »Ausländern« ihrer Klasse »ein kleines Land ein, das nur uns gehörte«. Sie separiert sich zusammen mit anderen, bleibt aber auch ihnen fremd. Sie wird gequält, und auch sie selbst quält andere, sie passt sich an und ist selbst unter den Außenseitern eine Außenseiterin.

Paula wird mit der sie umgebenden Welt nicht vertraut, obwohl sie zumindest manchmal versteht, was vor sich geht: »Mein Leben war für mich ohne Zusammenhang.« Sie macht mit bei einem Spiel, dessen Regeln sie nicht kennt, und sie erwartet, dass ihr irgendwann jemand die Regeln erläutert oder dass sie sie selbst begreifen wird, wenn sie älter ist. Paulas Fremdheit ist also ganz normal, sie will etwas wissen, was niemand ihr erklären kann, weil niemand die Regeln begriffen hat.

Fast alle, die es dennoch versuchen, scheitern grandios. Vor allem ihr Vater, der sie in der wenigen Zeit, die er sich für sie nimmt, zu beeinflussen sucht, entfernt sich immer mehr von ihr. Ihre Großmutter erzählt Geschichten und ist ihr bloß eine Gesellschafterin. Kunst und Musik kommen und gehen. Am ehrlichsten ist noch ihre abweisende Mutter. Als Paula sie fragt, wie Babys gemacht werden, antwortet sie: »Geschlechtsverkehr« und beendet das Gespräch. Eine klare Antwort und doch hilft sie nicht weiter.

Vieles in Fox’ Roman ist so simpel und beiläufig wie dieser kurze Dialog. Die einzelnen Episoden sind allesamt knapp und flüchtig. Nur wenig wird er- oder verklärt, Kommentare und Pointen fehlen, die Schilderung ist so kalt und trostlos, wie es die Kindheit und Jugend eben sein können und wie sie es in ihrem Fall wohl waren. Wie die Kleider, die Paula trägt, ist ihr Leben eines aus zweiter Hand. Das ist trist, hat aber auch Vorteile. Im Kapitel »Long Island« schreibt Fox: »In einer Hinsicht rettete mich der Knoblauch, indem er meine Stellung als Außenseiterin bekräftigte und mich davon abhielt, mir irgendwelche anmaßenden Postulate von nationaler oder persönlicher Überlegenheit anzueignen.«

Obwohl sie sich im Stil deutlich unterscheiden, fühlt man sich beim Lesen gelegentlich an Ian McEwan erinnert, der in einigen seiner Erzählungen und Romane Kinder und Jugendliche aus den Zwängen der Erwachsenenwelt befreit. Paula Fox schrieb zahlreiche Kinderbücher sowie sechs Romane, sie hat drei Kinder und mehrere Enkelkinder (eines ist Courtney Love). Vor kurzem ist sie 80 Jahre alt geworden, aber sie schreibt über die fiese Zeit der Jugend, als sei sie ihr gerade erst entkommen.

Paula Fox: In fremden Kleidern. C.H. Beck, München 2003, 287 S., 19,90 Euro