Kasino Berlin

In der Hauptstadt wird kräftig abgezockt. Vor allem bei den unteren Schichten der Bevölkerung. Die PDS und die SPD machen es möglich. von ambros waibel

Ist doch ganz klar, Berlin wird Las Vegas. Das totale Happening. Las Vegas 2000. Nur noch Spielhöllen, aber wie! Und dann das ganze Gewerbe, das dazugehört, Strip, Suff, Show, bramm. Also so, wie’s jetzt ist, nur mit dem anderen Tinnef weg, wer braucht denn noch Industrie. Ein Riesenpuff, alle zwei Minuten die Bumsbomber mit den Japanern, ging ja in der Blockade auch, und am Flugsteig schon ein paar nackte Weiber. Ein einziges Las Vegas für die ganze Welt. Las Vegas global. Wenn die Astronautenfittis vom Mond runtergucken, dann sehen sie dieses geballte Neonlicht, bramm. Das ist Berlin 2000.«

Zwanzig Jahre ist es her, dass der Schriftsteller Jörg Fauser bei einer Recherchetour durch die Berliner Wirtschaft und die angeschlossenen Wirtschaften diese Rotlichtvision einfing. Die Beziehungen zu Las Vegas sind heute eher gestört, Ziel- und Abflughafen aller Bumsbomber ist wie eh und je das Axel-Springer-Hochhaus, nur der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit eröffnet an Stelle eines altbackenen Spielkasinos lieber den Christopher Street Day.

Gezockt aber wird munter weiter, etwa in den so genannten städtischen Entwicklungsgebieten. Die Berliner Zeitung erläutert anlässlich der vom rot-roten Senat jüngst beschlossenen Sparmaßnahmen: »In diesen Gebieten sind inzwischen Millionenverluste entstanden, weil sich die Häuser und Wohnungen nur schlecht verkaufen. Die Verträge sollen nun gekündigt und die Entwicklungsmaßnahmen abgewickelt werden. Der Senat rechnet damit, dass er langfristig zwar Ausgaben spart, weil der finanzielle Verlust nicht größer wird, aber zunächst einmal viel Geld zahlen muss. Für die Kredite, die die Entwicklungsträger aufgenommen haben, wird das Land mit 680 Millionen Euro einspringen müssen.«

Das kennt man allerdings vom Berliner Bankenskandal. Nach großen Verlusten mit zweifelhaften Immobilienfonds musste der Senat der Bankgesellschaft mit einer Bürgschaft in der Höhe von 21,6 Milliarden Euro helfen, um die Schließung der Bank zu verhindern.

Überschlägt man nun die beschlossenen Kürzungen bei der Sozialhilfe und bei Kinder- und Jugendprojekten, beim Sport und bei den Frauen, bei den Universitäten und der Polizei, bei Sozialwohnungen und den Opern, dann haben es die Spieler im Senat noch nicht ganz geschafft, das Immobilienroulette zu refinanzieren. 500 Euro Studiengebühren für Langzeitstudenten pro Semester, hundert Millionen Euro weniger für die Universitäten, Aufhebung der Lernmittelfreiheit, kein Zuschuss mehr an die Verkehrsbetriebe für die Karten von Sozialhilfeempfängern, höhere Gebühren für Kindertagesstätten – all das reicht noch nicht.

Weitere Maßnahmen sind zu erwarten, und Wowereit droht auch schon in der Berliner Zeitung, er bleibe »immer optimistisch«. Berlin feiert indes weiter, der Karneval der Kulturen wurde nicht etwa abgebrochen, weil er sich zu einer spontanen Demonstration gegen den Sozialabbau entwickelte, sondern weil der Sturm ein Gerüst umriss.

Schlecht ist dagegen die Stimmung in der PDS. Die Stimme der Pressesprecherin im Karl-Liebknecht-Haus ist zum Mitweinen. »Ja, die Einführung von Studiengebühren und die Abschaffung der Lernmittelfreiheit stoßen bei unserer Basis wirklich auf kein Verständnis.« Man wünscht ihr alles Gute und erspart ihr die Anmerkung, dass selbst Gregor Gysi instinktiv die Pokerrunde im Roten Rathaus verließ, als klar wurde, dass der letzte Einsatz nichts anderes als das Erbe von 150 Jahren Arbeiterbewegung sein würde.

Im Foyer des Kasinos flirtet derweil die CDU mit den Grünen, gesteht aber wie eine selbstkritisch-schüchterne Liebhaberin ein, sie sei programmatisch derzeit »nicht auf dem Stand, den sie haben müsste«, wie die Bild das nennt, obwohl man doch eigentlich so gut zueinander passte: »Die CDU und die Grünen gehen beide sehr stark von einem bürgerlichen Bild aus, das die Verantwortung mehr beim Einzelnen sieht.« Die Grünen denken noch nicht ganz so, die nächsten Wahlen sind erst 2006. Dann schlendert die FDP vorbei, und fraktionsübergreifend heißt es in der Opposition, bei den Sparbeschlüssen sei die »klare politische Linie« nicht erkennbar.

Oh doch, möchte man ihnen zurufen, aber kaum jemand ruft mit. Das mussten auch schon die studentischen Funktionäre erfahren. »RefRat erklärt studentischen Protest für beendet – Spart Euch die Humboldt-Uni!« hieß es in der vorigen Woche. »Die Beteiligung an der heutigen Demonstration gegen Bildungsraub und Sozialabbau hat deutlich gezeigt, dass die Studierenden in großer Geschlossenheit hinter den Kürzungsplänen des Berliner Senats stehen. Der RefRat der Humboldt-Universität zu Berlin zieht daraus die Konsequenzen und erklärt den studentischen Protest für beendet.« Wäre es da so kurz nach dem 17. Juni nicht konsequent, der RefRat löste die Studierenden auf und wählte sich neue?

»Zum Streiken ist so kurz vor Schuljahresende einfach keine Zeit«, kommentiert dagegen pragmatisch Karla Werkentin, die Leiterin der Heinz-Brandt-Oberschule in Weißensee, die geringe Teilnahme der Lehrerinnen und Lehrer an einem von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) initiierten Warnstreik gegen die Erhöhung der Pflichtstundenzahl am vorigen Freitag. Dabei waren es immerhin 4 000 Lehrer. Noch mal 5 000 Demonstranten zogen am gleichen Tag unter dem Motto »Zukunft für Bildung« vom Roten Rathaus zum Brandenburger Tor.

Doch die Masse der Betroffenen ist das nicht. Wo ist sie, was tut sie? Wo engagieren sich all die allein erziehenden Elternteile Neuköllns und Marzahns, die in zermürbenden Briefwechseln mit den Sachbearbeitern auf dem Sozialamt um ein paar Kröten kämpfen? Die mehr oder weniger liebevoll sich um die Gegenwart und die Zukunft ihrer Kinder bemühen und noch immer nicht den Kampf um eine unterbezahlte Arbeit oder eine absurde Fortbildung aufgegeben haben? Die vielleicht sogar mal für ein paar warme Tage genug haben vom fortgesetzten Verrat der Regierenden?

Alle, die es wirklich angeht, kämpfen schon längst, und oft genug ist es ein Kampf nicht mit dem, sondern gegen den eigenen Körper: »Armut macht süchtig – In sozial schwachen Bezirken sterben mehr Menschen an Lungenkrebs – Gesundheitssenatorin appelliert an Eigenverantwortung«, berichtet die taz. Den Betroffenen aber sind zynische Appelle ebenso gleichgültig wie jegliche Symbol- und PR-Politik, ob nun Klaus Wowereit routiniert sympathisch die ehemalige Randgruppe unter den Zielgruppen begrüßt oder die Granden der PDS, mürrisch unterwegs zur Grabstätte Rosa Luxemburgs, ihr Schicksal bejammern, das sie nicht in Polen oder Tschechien Mitglied einer Staatspartei hat sein lassen, denn dort wären sie längst angenommen, wo sie mit ihrem geschmacklosen Manageroutfit à la Roland Claus mühsam hinzukriechen versuchen: »oben«.

Wer arm ist, ist deswegen nicht gut. Die Deklassierten zu idealisieren, ist genauso fragwürdig, wie sie zum Widerstand aufzufordern. Wer die vergangenen Monate mit moraltheologischen Diskussionen über Sinn und Zweck des Irakkriegs verbracht hat, während ihm zu Hause der relaunchte eiserne Kanzler mit dem klassischen Tausche-Innen-gegen-Außenpolitik-Trick und der wehenden Pace-Imperialismus-Fahne in der Hand die Butter vom Brot nahm, sollte seine Rolle als Verteidiger derjenigen, denen es langsam aber sicher ans Brot geht, noch mal überdenken. Oder mit den Worten Jörg Fausers: »Wir, die wir selbstverständlich erhaben über Völkerhass, frei von Vorurteilen und einig in unserer Erschütterung über die Hässlichkeit der Macht sind – es ist ja beileibe nicht so, als ob wir den ganzen Tag Zeit hätten.«