Träum nicht, wackel nicht

Immer mehr Kinder leiden am so genannten Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS). Die Therapie besteht meist in der Verabreichung von Ritalin. von guido sprügel

Schulanfang. Sechs Wochen Ferien sind vorbei, und wieder heißt es für Millionen Kinder, die Schulbank zu drücken. Manche von ihnen fallen dabei auf. »Zappelphilipp« oder »Träumsuse« werden sie genannt, die Kinder mit einem Hang zur Unruhe oder zum Träumen. An deutschen Grundschulen sind sie in fast jeder Klasse zu finden, und die Berichte und Klagen über verhaltensauffällige oder unaufmerksame Kinder mehren sich.

In den siebziger und achtziger Jahren wurde Kindern, die in der Schule herumhampelten, den Unterricht störten und zu Verhaltensauffälligkeiten neigten, die Diagnose »minimale cerebrale Dysfunktion« (MCD) gestellt. Man ging davon aus, dass ein hirnorganischer Defekt die Ursache für die Probleme der Kinder sei. Eine biologische Abweichung im Gehirn dieser Kinder wurde jedoch nie gefunden, und so verschwand der Begriff Mitte der achtziger Jahre so schnell von der Bildfläche, wie er aufgetaucht war.

Später wurde dann die Begriffe »Wahrnehmungsstörung«, »hyperkinetisches Syndrom« und »Teilleistungsschwäche« benutzt, die ohne einen organischen Befund das Problem einzuordnen versuchten. Doch seit einigen Jahren sind auch diese wieder unpopulär geworden, und der Begriff Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) hat zu einer Renaissance der biologischen Ursachenforschung geführt.

Denn der Begriff des ADS geht von einer biologischen Abnormität aus – zwar nicht von einem hirnorganischen Defekt, jedoch von einem gestörten Stoffwechsel in den Gehirnen der betroffenen Kinder, bei denen die Botenstoffe Dopamin oder Serotonin fehlen sollen. Untersuchungen haben bereits 1971 ergeben, dass hyperaktive Kinder zwar über ein extrem niedriges Serotonin-Niveau gegenüber den als nicht auffällig beschriebenen Kindern verfügen, sich dieses jedoch änderte, sobald sie längere Zeit in einem ruhigen Laborumfeld verweilten. Der US-amerikanische Psychologe Richard DeGrandpre, aber auch deutsche Ärzte stützen diese Ergebnisse und warnen gleichzeitig vor der verkürzten biologistischen Sichtweise des Problems.

Judith Barben, eine Kinderpsychologin aus Hamburg, bezieht sich auf eine deutsche Studie, die eindeutig nachweist, dass hyperaktive Kinder sich beruhigen, wenn die Kommunikation und Interaktion in der Familie verbessert werden. Doch trotz aller warnenden Stimmen wird in weiten Teilen der Fachwelt von einer Krankheit ADS ausgegangen. Und gegen eine Krankheit hilft bekanntlich eine Medizin: Ritalin.

1961 ließ die Food and Drug Administration (FDA) in den USA den Einsatz von Ritalin, hergestellt vom Arzneimittelunternehmen Ciba, heute Novartis, bei Kindern zu. Ritalin ist eigentlich ein starkes Amphetamin, ein Aufputschmittel, mit dem Wirkstoff Methylphenidat als Grundlage. Auf gleiche Weise verabreicht, hätte es eine Wirkung wie Kokain. Bei Hyperaktiven wirkt es, wie bei allen anderen Kindern auch, beruhigend; die Kinder werden angepasster, stören weniger und erscheinen konzentrierter. Gleichzeitig wirken sie jedoch häufig abwesend und lethargisch.

Doch obwohl Ritalin ein starkes Stimulans ist, das Suchtgefahren in sich birgt und über gravierende Nebenwirkungen verfügt, wurde es in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr Kindern verschrieben. Um 1975 nahmen 150 000 US-amerikanische Kinder das Medikament. In den späten achtziger Jahren waren es bereits etwa eine Millionen. Heute nehmen über zwei Millionen Kinder in den USA Ritalin regelmäßig ein.

Auch in Deutschland wird das Mittel immer öfter von Kinderärzten verschrieben. Heute nehmen hierzulande 20mal so viele Kinder Ritalin wie im Jahr 1993. Die Drogenbeauftragte des Bundesministeriums für Gesundheit, Marion Caspers-Merk, ging im vergangenen Jahr davon aus, dass in Deutschland zwei bis sechs Prozent aller Kinder an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität) leiden würden. Das hieße, dass in Deutschland mehr als 320 000 Kinder und Jugendliche ADS-Patienten wären, für die die Vergabe von Ritalin in Frage käme.

Caspers-Merk warnt vor der lockeren Verschreibungspraxis deutscher Ärzte. Zwar möchte sie der »missbräuchlichen Anwendung entgegenwirken« und verlangt, Ritalin nur in Verbindung mit einer Therapie zu vergeben, sie erklärt die Krankheit andererseits jedoch auch biologisch. Es handele sich um ein »komplexes Krankheitsbild, bei dessen Entstehung ein Zusammenspiel psychosozialer und biologischer Faktoren vermutet wird. Studien messen den biologischen Faktoren eine wichtige Bedeutung zu.« Nichts Genaues weiß man nicht.

Trotzdem behauptet die Drogenbeauftragte, dass Methylphenidat »für die Behandlung des ADSH geeignet« sei. Woher weiß sie das? Schließlich sind die Ursachen für das so genannte ADSH noch unbekannt, wie sie selbst eingestand. Doch wenn die Ätiologie einer Krankheit, also ihre Ursache und Herkunft, nicht geklärt ist, verabreicht man normalerweise nicht vorschnell ein Medikament. Erst recht nicht, wenn dieses erwiesenermaßen nicht unerhebliche Nebenwirkungen hat.

Einig sind sich die Kritiker des Arzneimittels und die Drogenbeauftragte, dass die Vergabe sehr freizügig gehandhabt wird und selten vom zuständigen Arzt verordnet wird. »Ein großer Teil der Verordnungen wird nicht von Kinderärzten vorgenommen, sondern vor allem von Laborärzten, HNO-Ärzten, Frauenärzten, Radiologen und sogar Zahnärzten«, stellt Caspers-Merk fest.

Dabei bedürfte es eigentlich anderer Lösungsstrategien im Umgang mit schwierigen Kindern. Die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion im Bayerischen Landtag, Anne Hirschmann, fasste dies vor zwei Jahren bei einer Expertenanhörung zusammen: »Wir brauchen endlich wirklich kleinere Klassen an den Schulen, mehr Freiräume für Lehrer und die Ganztagsschule.«

Erwin Gräb von der Fachakademie für Heilpädagogik der Rummelsberger Anstalten betont, Medikamente dürften nie ohne begleitende pädagogische Maßnahmen eingesetzt werden. Dies wäre der erste Schritt »zu einer Biologisierung der sozialen und erzieherischen Fragen.«

Dennoch bekommen immer mehr Kinder Ritalin verabreicht. In den Klassen und Familien ist es danach scheinbar ruhiger, der Ursache der Verhaltensprobleme ist man jedoch nicht auf den Grund gegangen. Denn sobald das Medikament abgesetzt wird, ist das alte Verhalten wieder da. Für langfristige Therapien, eine intensive Familienhilfe und sinnvolle Freizeitangebote für problematische Kinder ist der Blick verstellt oder das Geld nicht da. Aber eine Verhaltenskrankheit, die man mit Hustensaft einfach wegzaubern kann, gibt es nicht.