Monopoly am Strand

Gemeinsam protestieren oder einzeln verhandeln? Im brasilianischen Fortaleza wehren sich die Bewohner der Favelas gegen Räumungen. von nils brock, fortaleza

Ich weiß nicht, ob es Lula ist, der lügt, oder unser Bürgermeiser. Ich weiß nur, dass hier bei uns nichts ankommt außer Versprechungen.« So fasst Lidoína Lima da Silva aus Fortaleza, fünftgrößte Stadt Brasiliens, ein knappes Jahr sozialen Wandel unter dem neuen Präsidenten Lula da Silva zusammen.

Zumindest von »ihrer« Arbeiterpartei (PT) hatte sich Lidoína, ebenso wie die anderen Mitglieder der Favela-Initiative Dolor Barreira, mehr erhofft. Dass die konservative Lokalregierung sich nicht um die Belange der 700 000 Slumbewohner kümmert, ist eine Erkenntnis, die schon mehrere Legislaturperioden währt. Die Stadträte spielen lieber Monopoly auf der Strandpromenade, einer von ihnen baut gerade ein neues Hotel.

Schneller als die Bettenburgen und Apartmenthäuser in Meeresnähe wachsen in Fortaleza nur die Armenviertel. Etwa 100 Favelas gab es in den siebziger Jahren, seitdem hat sich ihre Zahl versechsfacht. In den offiziellen Statistiken ist nur die Hälfte dieser Hütten zu finden, da man erst zu zählen anfängt, wenn mehr als 20 Familien ein Stück Land besetzen. Squatter, die man ignoriert, kann man auch einfacher wieder loswerden. Denn wer mehr als fünf Jahre ein privates Stück Land besetzt, erhält Anspruch auf diese Parzelle. Theoretisch zumindest, im Alltag kommen die Besetzer selten zu ihrem Recht, denn die Regierung hilft bei ihrer Vertreibung.

In den nächsten Wochen und Monaten werden Bulldozer viele der illegalen Unterkünfte in Strandnähe zusammenschieben, um Platz zu machen für das Projekt »Portão de Atlantico«. Fortaleza und vier weitere Hafenstädte sind Teil dieses staatlichen Bauvorhabens. Von diesen »atlantischen Toren« verspricht sich Brasilien mehr Einkünfte in der Tourismusbranche. Neue Hafenanlagen sollen außerdem die Exportkapazitäten erhöhen und neue Arbeitsplätze schaffen.

In einer Stadt, die als Industriestandort bedeutungslos geworden ist und in der sich 50 Prozent der Erwerbstätigen im informellen Sektor selbst beschäftigen, gibt es wenig Kritik an den Bauplänen. »Der Lula-Konsens hält eben gut«, sagt Claudio Monteiro von der Gruppe Critica Radical. »Der Staat, der sonst kein Geld hat für soziale Projekte, kommt hier dem Kapitalismus mit teurer Infrastruktur zu Hilfe. Im Tourismus hat man ein gemeinsames Interesse gefunden.«

Nahe den Stränden von Pirambu und Barra do Ceará soll in den nächsten Wochen der Bau einer neuen Straße beginnen, mit begrüntem Mittelstreifen und Radweg. Die Bewohner des Stadtteils haben sich anfangs gegen die geplante Umsiedlung gewehrt. Die Favelas sind in diesem Stadtteil in über 60 Verbänden organisiert, die jedoch nicht die Interessen aller Besetzer vertreten. Manche abgelegenen Häuser werden ausgeschlossen, und anstatt gemeinsame Proteste zu organisieren, handeln die Vertreter der Bewohnerverbände einzelne Kompromisse aus. Unter Vermittlung des Menschenrechtsausschusses der katholischen Kirche hat bereits die Hälfte der Verbände Sonderabkommen unterzeichnet, die ihnen neue Häuser im selben Viertel garantieren.

Olinda Marques von der NGO Cearah Periferia hält nicht viel von diesen Verträgen. »Solche Verhandlungen neutralisieren den Widerstand der Favelas. Leider gibt es kein allgemeines Verständnis dafür, was nach diesem Projekt kommt, nämlich Bodenspekulation.« Olinda schätzt, dass nach Fertigstellung der Promenade die meisten ihr Land schnell wieder verkaufen werden. »In zehn Jahren gibt es dort dann genauso viele Hotels wie in Meireles, dem Touristenstrand von Fortaleza.«

Nichts zu verkaufen, aber alles zu verlieren haben die Bewohner der Favelas im Osten der Stadt. Dort, am »Strand der Zukunft«, lässt die Regierung Lula derzeit eine Schnellstraße bauen, um Fortaleza mit dem weiter nördlich gelegenen Industriehafen Complexo Porteiario de Pecem zu verbinden. Da das Gelände in öffentlicher Hand ist, können die Besetzer keine Landrechte erwerben. Vor drei Jahren sind hier schon einmal Bulldozer zur Zwangsräumung vorgefahren, die aber nach anhaltenden öffentlichen Protesten ihre Arbeit abbrachen (Jungle World, 43/01). Ein Umsiedlungsprogramm wurde in Aussicht gestellt. Mittlerweile hat sich Ernüchterung in der Gemeinde breit gemacht. »An der Misere hier hat sich bis heute nichts geändert«, sagt eine Bewohnerin.

Und doch gibt es einen Unterschied zu früher, zurzeit sind keine öffentlichen Kundgebungen geplant. »Die letzte Demonstration, die wir organisiert haben, fand vor sechs Monaten statt. Das führt doch zu nichts. Was zählt, sind Dokumente«, sagt Lidoína, die vor drei Jahren noch zu den Wortführern des Widerstands gehörte.

Die Mitarbeiter von Critica Radical, die zahlreiche Favelas bei ihren Protestaktionen und neuen Besetzungen unterstützen, sehen in dieser Haltung eine allgemeine Entwicklung: »Viele Favela-Verbände und NGO kooperieren bedingungslos mit der Regierung.« Im Hinblick auf die eigene Arbeit fügt Célia Zanetti hinzu: »Radikalere Positionen werden ausgeschlossen, um die versprochenen Häuser nicht aufs Spiel zu setzen.«

Wie viele der Selbsthilfeprojekte tatsächlich realisiert werden, ist fraglich. Fest steht nur, dass die geplante Infrastruktur weit über das für den sozialen Wohnungsbau übliche Niveau hinausgeht. »Der Großteil der Leute, die jetzt hier leben, könnte doch nicht einmal die künftigen Müllgebühren bezahlen«, meint Olinda.

Während auf dem Papier schon viele neue öffentliche Schulen und Kinderkrippen zu sehen sind, gelingt es im Moment nicht einmal, die bestehenden Einrichtungen offen zu halten. Der Sozialfonds sei eben leer, so die lapidare Erklärung der Landesregierung. »Die politische Kultur ist hier im Nordosten sehr verschlossen«, erklärt José Maria Ferreira da Silva, Präsident der Föderation der Stadtviertel und Favelas. »Auch unsere Organisation hat es schwer, Informationen zu bekommen. Ich gehe aber davon aus, dass es seitens der Stadt kein klares Konzept gibt.«

Die föderale Regierung, die mit ihren bisherigen Programmen nur punktuell auf die prekäre Situation in den Favelas reagiert hat, stellte Anfang September landesweit 200 Millionen Real (etwa 60 Millionen Euro) für den Wohnungsbau in Aussicht. Doch das Geld soll von den jeweiligen Landes- und Kommunalregierungen verwaltet werden, die nur an wenige Auflagen gebunden sind.

Im nächsten Jahr werden in Fortaleza Wahlen stattfinden. Der Kandidat der Kommunistischen Partei, Inácio Arruda, der vor drei Jahren nur knapp dem konservativen Wahlbündnis unterlag, hat die Wohnungsnot bereits zum Thema gemacht. Für Olinda ist das kein Grund, euphorisch zu werden: »An den allgemeinen Missständen wird auch er nicht viel ändern können, aber zumindest stiehlt die Linke manchmal weniger.«