Aufstand in Bolivien

Nach Massakern des Militärs eskalierte der bolivianische »Krieg ums Gas« bis zum Sturz des Präsidenten. von simón ramírez voltaire

Neuer Staatsschef, neues Glück? Nach einem Monat schwerer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist Boliviens Präsident Gonzalo »Goni« Sánchez de Lozada am Freitag zurückgetreten; kurz darauf setzte er sich in die USA ab. Sein parteiloser Nachfolger Carlos Mesa, der zuvor als Vizepräsident fungierte, hat angekündigt, eine Übergangsregierung aus »unabhängigen Persönlichkeiten« zu bilden. Er wolle ohne Parteien regieren, aber mit parlamentarischer Unterstützung. Auf einer Pressekonferenz in der Hauptstadt La Paz erklärte er, damit gehe er das Risiko eines »totalen Schiffbruchs« ein. Zuvor hatte er im nahe gelegenen El Alto, wo in den letzten Tagen bei schweren Zusammenstößen zwischen Militär und Protestierenden dutzende Menschen ums Leben gekommen waren, versucht, die Bevölkerung zu beruhigen; die Verantwortlichen für den Tod von mehr als 70 Menschen, die der blutigen Repression zum Opfer gefallen sind, würden bestraft. Im Übrigen kündigte er ein Referendum über den Export von bolivianischem Erdgas sowie eine verfassungsgebende Versammlung an.

Entzündet hatten sich die Proteste, die in einen Aufstand mündeten, an den Plänen der Regierung, das in Bolivien reichlich vorkommende Erdgas – die Reserven sind nach den venezolanischen die zweitgrößten der Region – über einen chilenischen Hafen nach Mexiko und in die USA zu exportieren. 1996 hatte de Lozada während seiner ersten Präsidentschaft die die Privatisierung von Öl und Gas zum Schleuderpreis ermöglicht. Der bolivianische Staat sollte dem jetzt bekämpften Energiegesetz zufolge lediglich 18 Prozent der Gewinne erhalten.

Bereits vor vier Wochen kam es im Hochland in der Gegend des Titicacasees zu Straßenblockaden und zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen dem immer härter vorgehenden Militär und den Hochlandbauern. Danach erreichten nicht nur die Streiks und Proteste im ganzen Land überwältigende Ausmaße, auch die staatliche Repression nahm seit Einführung der Demokratie vor 21 Jahren nicht mehr gekannte Formen an. Die Städte El Alto, La Paz und Cochabamba waren zeitweise völlig paralysiert. In El Alto und La Paz wurden Benzin, Gasflaschen zum Kochen und Grundnahrungsmittel zu Mangelwaren.

Als sich am vorletzten Sonntag Bewohner von El Alto, der Nachbarstadt des Regierungssitzes La Paz, einem mit Benzin beladenen Lkw-Konvoi in den Weg stellten, richtete das Militär ein Blutbad mit mindestens 26 Toten und fast hundert Verletzten an. Anstatt einzuschüchtern, steigerte das Massaker die Wut. »El Alto verzeiht nicht«, teilte die Föderation der Nachbarschaftsversammlungen FEJUVE mit und kündigte an, bis zum Rücktritt de Lozadas durchzuhalten.

Tags darauf versicherten die USA und die Organisation Amerikanischer Staaten de Lozada ihrer Unterstützung; sie würden keine Unterbrechung der verfassungsmäßigen Ordnung dulden. Die USA erkenne keinen anderen Präsidenten als de Lozada an, hieß es später offiziell. Mittlerweile haben sie jedoch den neuen Präsidenten Mesa akzeptiert.

Auch inoffiziell ließen sie der Regierung Hilfe zukommen. Nach Angaben des Präsidenten der Menschenrechtskommission der Abgeordnetenkammer, Paolo Bravo, landete am Mittwoch vergangener Woche in dem im nördlichen Tiefland gelegenen Cobija ein US-Militärflugzeug mit Kriegsmaterial, das zur Aufstandsbekämpfung nach La Paz und in die Koka-Region Chaparé geschafft wurde.

Unzählige Berichte von Journalisten, Zeitungsredaktionen, Fernsehteams und Radiosendern über brutale und systematische Aktionen von eindeutig dem Regierungsumfeld zugeordneten paramilitärischen Gruppen in dunklen Nobel-Jeeps machten vergangene Woche die Runde: Übergriffe und Schüsse auf Journalisten, direkte Bedrohung von Redaktionen bis zur Zerstörung von Sendeanlagen durch Militärs. Kioske, die die angesehene Wochenzeitung Pulso verkaufen, wurden angegriffen, ein Teil der Auflage beschlagnahmt oder vernichtet. Journalisten in La Paz und Sucre traten in den Hungerstreik.

Das Blatt hatte über die Federführung von US-Beratern bei der spürbar verstärkten Repression berichtet. In der anstößigen Sondernummer hatte Pulso de Lozada als »fiktiven Präsidenten« bezeichnet und recherchiert, dass derzeit vier Beauftragte aus den USA die Macht okkupiert hätten.

Einer von ihnen hatte demnach den Oberbefehl der Streitkräfte übernommen, die Koordination der Operationen lag bei einem weiteren in der US-Botschaft in La Paz. Von den anderen beiden war einer für den Nachschub an militärischem Material, der andere für den Nachrichtendienst zuständig. Der in Bolivien als Rechtsausleger bekannte und als »Bluthund« verhasste Verteidigungsminister, Carlos Sánchez Berzaín, soll als Mittelsmann zwischen der offiziellen und der Schattenregierung fungiert haben.

Auf den Rat der US-Berater wurden in den Krisengebieten eingesetzte aymarastämmige Soldaten gegen Kräfte aus dem Südosten Boliviens ausgetauscht, um Meutereien vorzubeugen. Diese vom Großgrundbesitz geprägte und wirtschaftlich zentrale Region gilt als in großen Teilen feindlich gegenüber den Bauern und Indígenas eingestellt. Dort gab es auch die einzige nennenswerte Unterstützung de Lozadas. In Tarija wurde vergangene Woche für den Gasexport und gegen den Rücktritt des Präsidenten demonstriert, während in Santa Cruz Horden von Jugendlichen aufzogen, um den Einmarsch der Bauern zu verhindern.

Seit den Todesfällen in El Alto kamen in den Städten täglich immer mehr Menschen zusammen, und die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten trat in den Vordergrund. Der »Krieg ums Gas« forderte bisher über 70 Menschenleben, es gab über 400 Verletzte. Neben den Zentren La Paz und Cochabamba gab es auch in Sucre, Potosi und Santa Cruz Massenmobilisierungen. Praktisch ganz Bolivien wurde lahm gelegt, es wurde von Versorgungsengpässen und Preissteigerungen berichtet. An den Protesten beteiligten sich hunderte von Organisationen und Gruppen: Hochland- und Kokabauern, Rentner, Religiöse, Indígenas, Journalisten, Landlose, Arbeiter, Arbeitslose, Taxifahrer, Politiker, Intellektuelle, Lehrer.

Am Donnerstag demonstrierten 100 000 in La Paz, von denen einige versuchten, den Präsidentenpalast an der Plaza Murillo zu stürmen, während andere den Wohnsitz des Staatsoberhauptes umstellten. Mit Tränengas wurde am Nachmittag die Menge auseinandergetrieben.

Sämtliche prominente Oppositionelle, aber auch regierungsnahe Kreise sprachen sich für einen Rücktritt de Lozadas aus. Sein als gemäßigt geltender Vize Carlos Mesa protestierte gegen die harte Linie und kündigte an, er sei bereit, als Übergangspräsident de Lozada abzulösen. So kam es dann auch.

Noch am Donnerstag verschärfte de Lozada seinen Ton. Bei den sozialen Bewegungen handele sich um eine »narcosyndikalistische Subversion«, sagte er der Lateinamerikanischen Radiogruppe und schlug damit die sozialen Bewegungen pauschal dem Drogenhandel zu. Die beiden wichtigsten Oppositionsführer, Evo Morales von der starken Oppositionspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) und Felipe Quispe, Vertreter der Landarbeitergewerkschaft (CSTUCB), wiesen die präsidiale Erklärung umgehend zurück.

Nach dem Machtwechsel kehrte Bolivien lngsam zur Normalität zurück. Morales und Quispe signalisierten am Wochenende, dass sie unter Umständen eine Übergangsregierung unter Mesa tolerieren würden. Während Morales betonte, dass Mesa den Forderungen der Bevölkerung Folge leisten müsse, setzte ihm Quispe eine 90tägige Frist, die Forderungen der Indígenas zu erfüllen.