Absender: Anarchist

Die EU erhält explosive Briefe, in Brüssel geht die Angst um. Die neue Bedrohung heißt aufständischer Anarchismus und sendet aus Italien. von egon günther

Aufständische Anarchisten« heißen die neuen angeblichen Euroterroristen. Nachdem eine Reihe Briefsendungen explosiven Inhalts aus Bologna um den Jahreswechsel Amtsträger der Europäischen Union schockiert hat, überbieten sich Politiker, Polizisten, Kommentatoren in sämtlichen Medien mit Zuschreibungen und Deutungsversuchen. Bei linken Beobachtern wird gern der verschwörungstheoretische Ansatz bemüht, der entweder gleich Geheimdienstoperationen konstatiert oder bloß ferngesteuerte blindwütige Revolteure. Der italienische Innenminister Giuseppe Pisanu hingegen sieht gar eine programmatische und operative Achse zwischen Roten Brigaden, Anarchisten und sardischen Autonomisten auf sein Land zukommen. Dies entnimmt er den Berichten seiner Geheimdienstexperten, die ihm ein gemeinsames Papier zweier inhaftierter Sarden ausgewertet haben, wovon der eine angeblich anarchistisch inspiriert, der andere eher Marxist-Leninist sei. Darin werde der Gedanke einer internationalen anarchistischen Organisation gesponnen, die Pisanu zufolge bereits in Italien, Spanien und Griechenland durch terroristische Aktivitäten in Erscheinung getreten ist. Gegen Anschläge mit Paketen will man sich nun mit einem noch nicht genau definierten Paket von Sicherheitsmaßnahmen zur Wehr setzen, deren Normen auf die neue Bedrohung des aufständischen Anarchismus zugeschnitten werden sollen.

Im Unterschied zu den zentralistischen Roten Brigaden sei es nämlich die Strategie der aufständischen Anarchisten, in so genannten Affinitätsgruppen zu agieren, um sich, so der Minister, der Verfolgung mit dem Strafrechtsparagraphen der »bewaffneten Bandenbildung« zu entziehen. Im Widerspruch zu seiner neuen Erkenntnis sprach Pisanu einige Tage zuvor im Zusammenhang der Attentatsserie noch von einer Vereinigung antagonistischer Gruppen libertärer und marxistisch-leninistischer Herkunft, die sich – immerhin in aller Offenheit – im Kampf gegen die neoliberale EU-Verfassung zum Bündnis »Europposizione« (Jungle World, 41 und 42/03) zusammengeschlossen hätten. Tatsächlich sind Begriffe wie »aufständischer Anarchismus« oder »Affinitätsgruppe« mittlerweile Spielmarken, die in den Händen der Strafverfolgungsbehörden und Medien in verdrehter Form prima zum Herstellen beliebiger Konstrukte gegen jede Form sozialen Protests taugen, der über das Werfen von Wattebäuschen hinausgeht. Dabei sind diese Begriffe ursprünglich durchaus Früchte langjähriger Diskussionen innerhalb anarchistischer Kreise, die aus der Kritik herkömmlicher Organisationsformen des Anarchosyndikalismus entwickelt wurden.

In zahlreichen Schriften und Vorträgen erläutert der Anarchist Alfredo M. Bonanno das Konzept einer informellen Organisation, die den neuzeitlichen Veränderungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse Rechnung tragen sollen. Der Name Bonanno, dessen Schrift Gioia Armata (»Bewaffnete Freude«) in den siebziger Jahren so etwas wie ein ständig beschlagnahmter Bestseller der linksradikalen Underground-Literatur war, tauchte ebenfalls als Menetekel im paranoiden Bericht Pisanus auf, den dieser am vergangenen Donnerstag bei einer Anhörung im italienischen Parlament zum Besten gab. Bonannos Schriften durchzieht aber wie ein roter Faden die Ablehnung bewaffneten avantgardistischen Spezialistentums im Namen der Revolution, wie man es beispielsweise bei den Roten Brigaden praktizierte.

Im Konstruieren brisanter Zusammenhänge zur Erzeugung eines Angstklimas und der darauf folgenden Repression sind italienische Ermittlungsbehörden und die ihnen ergebene Presse allerdings ziemlich unverfroren. Einige Beispiele: Weil sich eine anarchistische Gruppe in Rovereto im Zusammenhang mit den Protesten gegen das Treffen der EU-Außenminister im September 2003 in Riva del Garda in einem Text mit der Verknappung und Privatisierung des Trinkwassers beschäftigt hat und die Rolle der Multis ansprach, galten vergiftete Mineralwasserflaschen, die unlängst in einigen Supermärkten Italiens verkauft wurden, ebenfalls als anarchistischer Anschlag. Unvergessen bleibt auch das Massaker in der Mailänder Landwirtschaftsbank am 12. Dezember 1969 mit 16 Toten und über hundert Verletzten, das man zuerst den Anarchisten in die Schuhe schob. Dieser Bombenanschlag sollte sich tatsächlich als Teil einer so genannten »Strategie der Spannung« herausstellen, die in einem Geflecht Teile der Armee, der Polizei, des Geheimdienstes, des christdemokratischen Staatsapparats und faschistische Kampfgruppen zur Bekämpfung der »roten Gefahr« verband.

Nun aber jedes Mal eine Neuauflage der »Strategie der Spannung« zu beschwören, wenn irgendwo revolutionäre oder gar anarchistische Knallfrösche hantieren, mag vielleicht ebenfalls paranoid sein. Vor allem verkennt eine solche Beurteilung, dass es immer Antiautoritäre geben wird, deren Ablehnung von Staat, Gefängnis und Polizei nicht restlos in linker Kampagnenpolitik aufgeht. Natürlich hat sich die Federazione Anarchica Italiana gegen die Verwendung ihres Akronyms FAI durch die vermeintlichen Versender der Schwarzpulverpäckchen verwahrt, die sich als informelle anarchistische Föderation zu bezeichnen beliebten. Wie es seit eh und je ihre Praxis ist, verurteilte die FAI bei dieser Gelegenheit zum wiederholten Mal jegliche Art von Bomben als einer Logik der Provokation folgende und der medialen Kriminalisierung dienliche. Sie verwies auf ihre offene Opposition gegen Herrschaft und staatlichen Terrorismus, die in der Teilnahme an sozialen Bewegungen, in selbst verwalteten Basisgewerkschaften und in den Zirkeln, die sie in zahlreichen Städten unterhält, ihren Ausdruck findet.

Dennoch gibt es auch eine weit zurück reichende Tradition im italienischen Anarchismus, die man unzulänglich als individualistisch oder organisationsfeindlich bezeichnen kann. Direkte Aktion, Enteignung, Aufstand, Revolte, Propaganda der Tat propagierten und lebten schon vor hundert Jahren berühmte Gestalten wie der Herausgeber der Zeitschrift Cronaca Sovversiva, Luigi Galleani (1861–1931), der damals bereits Affinitätsgruppen der gängigen Organisationsform vorzog. Auch fatale, selbst verschuldete Katastrophen verzeichnet die Geschichte der italienischen Anarchisten. Mit einem Bombenanschlag auf den Polizeipräsidenten wollte 1921 eine Gruppe von Mailänder Anarchisten auf die Haftbedingungen und den Hungerstreik dreier Redakteure der Zeitschrift Umanità Nova reagieren. Sie wurde von agents provocateurs falsch informiert und zündete vor dem Diana-Theater in Mailand einen starken Sprengsatz, der 30 Menschen tötete. Und in den siebziger Jahren machte mit Azione Rivoluzionaria sogar eine erklärt anarchistische Gruppe im »bewaffneten Kampf« den anderen linksradikalen Organisationen Konkurrenz.