Da geht es lang

Ein Reader will Migranten helfen, sich in Hamburg zurechtzufinden. von knut henkel

Seit sechs Monaten lebt Humberto Londoño in Hamburg. Allein zehn Wochen dauerte es, bis er zum ersten Mal die U-Bahn benutzte, als ihm ein chilenischer Freund erklärte, wie das Verkehrssystem funktioniert. Der aus der Region von Medellín stammende kolumbianische Journalist landete auf den Listen der paramilitärischen Todesschwadronen und musste aus Kolumbien fliehen. Einsam und orientierungslos war er in den ersten Wochen in der Hansestadt, gestrandet auf fremdem Terrain. »Ein Stadtführer wie der ›Navigator‹ hätte mir sicherlich geholfen«, so der 37jährige.

An Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten wendet sich der im Dezember erschienene Hamburg-Guide. In einigen Beratungsstellen liegt der fünfsprachige Stadtführer bereits aus; die ersten Exemplare des 250 Seiten starken Buches wurden vor der Hamburger Ausländerbehörde und der Zentralen Aufnahmestelle verteilt. Humbertos Freund Mario hat der Guide auch schon weiter geholfen. Seit drei Jahren lebt der 21jährige Chilene in Hamburg. Sein Vater, der seit zwanzig Jahren hier wohnt, hat ihn in die Hansestadt geholt. 18 Jahre war Mario damals, und um den Aufenthaltsstatus seines Sohnes hat sich der Vater nie gekümmert.

Schule, Ausbildung und Universität sind Mario somit verschlossen. Ob er einen Anspruch darauf hat in Hamburg zu bleiben, weiß er nicht genau, denn eine Beratung hat er nie aufgesucht. »Ich hatte Angst davor, gleich abgeschoben zu werden«, sagt er schulterzuckend. Mario will seine italienische Freundin heiraten, um bleiben zu können. Aber richtig sicher ist er sich nicht, ob alles so klappt, wie er es sich vorstellt. Bisher hatte er keine Ahnung, dass die Beratungsstellen seine Informationen vertraulich behandeln.

Erst im »Navigator« hat er davon gelesen und sich gleich eine Adresse im Hamburger Schanzenviertel notiert.

Probleme, sich in dem Buch mit dem roten Einband zurechtzufinden, hat er nicht, denn wenn er etwas auf Deutsch nicht versteht, liest er es auf der gegenüberliegenden Seite auch in seiner Mutersprache Spanisch nach. Sechs Spalten finden sich auf jeder Doppelseite des Querformats: fünf für den Text und die sechste ist für die Adressen der wichtigsten Einrichtungen reserviert.

Türkisch ist die fünfte Sprache, die angeboten wird. Farsi, die am weitesten verbreitete persische Sprache, soll noch dazukommen, wenn das Internetangebot des Projektes ausgebaut ist, so Hauke Wendler vom Verein Hamburger Stadtführer für Flüchtlinge und MigrantInnen e.V. Hinter dem Verein steht eine relativ kleine Gruppe von Privatpersonen, die im Sommer 2001 den Entschluss fasste, das Beratungs- und Hilfsangebot in Hamburg in aktueller und übersichtlicher Form vorzustellen. Mehrsprachigkeit wurde von Beginn an angestrebt, um möglichst viele Flüchtlinge und Migranten zu erreichen und ihnen den Zugang zu den Einrichtungen zu erleichtern. »Aktuelle Rahmeninfos wollen wir liefern – nicht mehr«, sagt Wendler. Doch ein bisschen mehr ist schon dabei herausgekommen, denn an dem Stadtführer haben zahlreiche Initiativen, gemeinnützige Träger, Vereine und viele Einzelpersonen, vornehmlich Migranten, mitgearbeitet. Sie lieferten aktuelle Informationen, schilderten ihre Erfahrungen und gaben so manchen wichtigen Tipp. Das Hamburger Nahverkehrssystem wird genauso erläutert wie die Informationspflicht staatlicher Stellen. »Etwas Vergleichbares haben viele der nach Hamburg emigrierenden oder flüchtenden Menschen in ihren Herkunftsländern nie kennen gelernt«, sagt der 37jährige Journalist aus Kolumbien.

Unwissen ist ein Grund für Misstrauen und Schwellenangst, so María Hernández. Seit gut zehn Jahren lebt die Frau aus Ecuador in Hamburg, während der ersten Jahre ohne gültige Papiere. Dass sie sich über ihre aufenthaltsrechtliche Situation hätte beraten lassen können, war ihr lange Zeit nicht klar. »Nicht mehr als drei bis vier Prozent der etwa 50 000 Menschen ohne Papiere, die in Hamburg leben, traut sich in die Beratungsstellen«, schätzt die ausgebildete Lehrerin, die sich ihren Lebensunterhalt in Hamburg mit Putzen und Babysitten verdient. Auch nach so langer Zeit in Deutschland staunt sie, dass es Möglichkeiten für den Arbeitgeber gibt, eine Unfallversicherung für seine Aushilfe im Haushalt abzuschließen, auch wenn sie keine gültigen Papiere hat. Auch für ihre Freundin Mireille, die gemeinsam mit ihrer 19jährigen Schwester Celia vorbeischaut, um sich bei María Rat zu holen, wo sie am besten einen Deutschkurs machen könne, ist das neu. Beide arbeiten als Reinmachefrauen, und María war ihre Eintrittskarte für ein neues Leben in Hamburg. Sie hat ihre Kontakte spielen lassen, um erst der einen, dann der anderen den Start in Hamburg zu erleichtern. Nun blättert Mireille auf der Suche nach einem Deutschkurs in dem Reader.

Krankheit ist eines der größten Probleme, wenn man keine Papiere hat. Einen Arztbesuch hat María damals nur riskiert, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Angst, dass die Ärzte die Behörden informieren könnten, war ein Grund dafür. Außerdem verlangten viele Ärzte einen Aufpreis für die Behandlung. »Alternativen hat es damals nicht gegeben. Heute gibt es solidarische Ärzte, die unentgeltlich behandeln«, sagt die 48jährige.

Bis heute stottert sie jedoch die Schulden ab, weil sie sich hat operieren lassen müssen, ohne krankenversichert zu sein. Lachen muss sie, als sie liest, dass es ein Recht gibt, seinen Arbeitslohn trotz fehlender Aufenthaltsdokumente einzuklagen. Davon hat sie noch nie gehört, aber sie würde auch keiner ihrer Freundinnen raten, von diesem Recht Gebrauch zu machen. »In Hamburg wird so strikt abgeschoben, das Risiko wäre viel zu hoch«, sagt sie schulterzuckend.

Zuverlässige Informationen, konkrete Anlaufstellen und praktische Tipps zu Aufenthaltsrecht, Wohnen, Gesundheit, Arbeit und Kultur bietet der Guide neben vielem anderen. Die verständlich aufbereiteten Informationen sollen dazu ermutigen, den nächsten Schritt zu machen und die Isolation zu überwinden, in der viele Flüchtlinge und Migranten leben. Das ist das eigentliche Ziel des Stadtführers, der mit Spenden von Privatpersonen und Stiftungen finanziert wurde und in einer Auflage von 5 500 Stück erschienen ist. Kostenlos wird das Buch abgegeben, wobei Spenden von Vereinen und Initiativen für den Aufbau der geplanten Internetseite gerne gesehen sind.

Für Martina Bäuerle, Geschäftsführerin der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte, ist der Guide ideal, um den Stipendiaten die ersten Schritte in Hamburg zu erleichtern. Zwischen fünf und zehn politisch Verfolgte lädt die Stiftung jährlich nach Hamburg ein und Humberto Londoño ist einer von derzeit fünf Stiftungsgästen.

www.navigator-hh.de