Geschichten aus dem Tollhaus

Die Maut kommt, die Maut kommt nicht. Weil die Bundesregierung nicht schärfer gegen Toll Collect vorgeht, droht kleineren Unternehmen der Ruin. Das tollste Desaster der Deutschland AG erklärt alexander wriedt

Als zu Silvester die Sektkorken knallten, saßen die Mitarbeiter der Autobahngesellschaft Asfinag vor den Kontrollmonitoren oder in ihren nagelneuen VW-Bussen an den Mautstationen der Autobahnen. Ein paar Stunden später durften auch sie die Sektflaschen öffnen. »Die Mauterhebung läuft seit Mitternacht ohne Probleme«, sagte der Geschäftsführer der Asfinag, Walter Hecke. Die Lastwagenfahrer, die am Neujahrsmorgen von Journalisten belagert wurden, zeigten sich begeistert. »Dieses System ist deppensicher«, rief einer in die Kameras der ARD-Reporter.

Die Einführung der Lkw-Maut ist ein voller Erfolg – allerdings nur in Österreich. Gejubelt wird in Wien, am Hauptsitz der Asfinag, die seit dem 1. Januar auf Österreichs Straßen abkassiert. Mindestens 600 Millionen Euro jährlich wird das neue System in die österreichische Staatskasse spülen. Geld, das der Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe (SPD) dringend braucht. Doch seine Kasse bleibt leer. Denn das Konsortium Toll Collect hat bisher kein arbeitsfähiges System zustande gebracht.

»Wenn sie es nicht schaffen, muss man die Zusammenarbeit beenden«, sagte kürzlich Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ausgerechnet auf dem Festakt der Deutschen Bahn in Berlin. Die Bahn ist mit Daimler-Chrysler und der Deutschen Telekom an Toll Collect beteiligt. Bis Ende Januar 2004 brauche man schon, um einen neuen Starttermin zu nennen, hieß es seitens des Konsortiums. »Eine an Frechheit eigentlich nicht mehr zu überbietende Äußerung«, schreibt das Fachblatt Verkehrsrundschau. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Bundestag, Eduard Oswald (CSU), erklärte, Toll Collect werde Stolpe den 3. Oktober für den Start einer vereinfachten Version des Mautsystems vorschlagen. Erst 2006 werde es uneingeschränkt arbeitsfähig sein. Zähneknirschend werden sich Schröder und sein Minister Stolpe auf die Bedingungen von Toll Collect einlassen. Denn ein Scheitern wäre ein Desaster für die deutsche Industrie und eine Gefahr für Tausende von Arbeitsplätzen.

Dabei hatte man sich so viel vorgenommen. Während die Österreicher fünf Euro teure Boxen ausgeben, die mit Saugnäpfen an die Windschutzscheibe geklebt werden und über Mikrowellen mit den aufgestellten Mautstationen in Kontakt treten, ist das deutsche System wesentlich komplizierter. Das Satellitensystem GPS, das den Fahrern gehobener Mittelklassewagen über einen kleinen Monitor den Weg weist, soll den Lastwagen metergenau orten. Die bereits installierten Mautbrücken über den Fahrbahnen, die jeden einzelnen Lastwagen registrieren, treten per Infrarot mit den Fahrzeugen in Kontakt. Die erhobenen Informationen, auch über die Art und Identität des Fahrzeugs, werden per Mobilfunktechnik übertragen, um schließlich die Höhe der Maut zu berechnen. »Das System ist nutzerfreundlich, flexibel und weltweit einsetzbar«, beharrt Toll Collect in einer Erklärung. Dabei ist es dem Konsortium noch nicht einmal gelungen, funktionierende »On-Board Units« herzustellen, autoradiogroße Kästen, die in die Fahrerkabinen der Lastwagen eingebaut werden und die Kommunikation mit dem Mautsystem ermöglichen.

»Ein solches Mammutprojekt lässt sich nicht in neun Monaten verwirklichen«, sagt Christoph Ermer, ein Elektroniker an der Universität Regensburg, der seit Jahren satellitengestützte Bordcomputer entwickelt. Mindestens zwei Jahre seien zu veranschlagen. »Viele Probleme ergeben sich erst in der Praxis. Erschütterungen im Fahrzeug können das System ebenso lahm legen, wie scheinbar harmlose Bedienungsfehler«, erklärt er. »Das größte Problem ist die Software«, sagt Anton Jordan, der kaufmännische Leiter von Socratec, einer Telematikfirma aus Regensburg. »Ohne eine längere Testphase lässt sich so etwas nicht entwickeln.«

Während die kleineren Mitbewerber auf diese Hürden bereits im Bewerbungsverfahren hingewiesen haben, gab sich Toll Collect selbstbewusst. Mit finanzstarken Großunternehmen im Hintergrund ließen sich alle Hürden aus dem Weg räumen, lautete die Botschaft. Toll Collect beschäftigt rund 600 Mitarbeiter, zu den Subunternehmen zählen Firmen wie Siemens und IBM, die sich Spitzenleute einfach einkaufen. »Die Techniker und Programmierer bei Toll Collect sind zweifellos Top-Leute«, gibt Ermer zu. »Nur haben die in den Bürokratien der Großindustrie nichts zu sagen.«

Anders als viele Mitbewerber, wie etwa das österreichische Unternehmen Europpass, bestreitet Jordan von Socratec gar nicht, dass das aufwändige System von Toll Collect funktionieren kann. Er ärgert sich aber über die Diskriminierung kleiner Spezialfirmen. »Diejenigen, die seit Jahren diese Technik entwickeln, werden ausgegrenzt und müssen jetzt um ihre Existenz fürchten«, sagt er. Denn bisher belieferten kleine Spezialunternehmen die Speditionen mit satellitengestützten Navigations- und Ortungssystemen für die Fahrzeuge. Diese Technik weist dem Fahrer nicht nur den Weg zum Ziel. Sie ermöglicht es auch den Spediteuren, Lauf- und Standzeiten präzise zu berechnen. Zwar darf Toll Collect diese Telematikdienste zunächst nicht anbieten. »Nach den Problemen mit den On-Board Units von Toll Collect ist die Bereitschaft jedoch dramatisch gesunken, sich auch noch unsere Geräte einzubauen«, berichtet Jordan.

Dabei haben sich die Telekom, Daimler-Chrysler und die Bahn AG den Auftrag nicht nur durch großspurige Versprechen gesichert. Den Ausschlag gab am Ende ihre Finanzkraft. »Wir haben den Zuschlag schon deswegen nicht bekommen, weil wir mit unseren 400 Mitarbeitern finanziell nicht potent genug seien«, ärgert sich Ernst Uhlmann, der Leiter des Schweizer Unternehmens Fela. Mehr als 15 Millionen Euro Vertragsstrafe – pro Tag – hätte er der Bundesregierung garantieren müssen, falls er den Starttermin nicht hätte einhalten können. »So ein Risiko sichert mir keine Bank ab«, erklärt Uhlmann.

Die Managern von Toll Collect haben die Vertragsstrafen auf maximal 183 Millionen Euro heruntergehandelt – im Jahr. »Ich traute meinen Augen nicht«, erzählt Uhlmann, der von dieser Abmachung aus einem Bericht der ARD erfuhr. »Für die Vergangenheit muss man akzeptieren, dass die Unternehmen nicht einfach Bares auf den Tisch legen«, sagt Bundeskanzler Schröder jetzt. Zuvor beharrte er noch darauf, es könne »doch gar nicht anders sein«, als dass die Industrie den Schaden des Bundes ersetze.

Ein Schiedsgericht soll jetzt klären, ob die Bundesrepublik zumindest einen Teil ihrer bisher verlorenen 1,3 Milliarden Euro ersetzt bekommt. Die Aussichten sind schlecht, denn der Bund müsste Toll Collect einen Vorsatz nachweisen. »Das halte ich für ziemlich ausgeschlossen«, gab der SPD-Verkehrsexperte Peter Danckert im Deutschlandfunk zu.

Selbst wenn das System ab Oktober betriebsfähig sein sollte, wird es weit weniger sicher sein, als Toll Collect gewährleisten wollte. »Jeder halbwegs intelligente Bastler kann Störsender bauen, die das GPS-Signal stören«, erklärt Wolfgang Lechner, dessen Unternehmen Telematica seit Jahren Navigationssysteme herstellt. Und die Mautbrücken bergen die Gefahr der »totalen elektronischen Verkehrsüberwachung«, wie Thilo Weichert, der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Datenschutz, befürchtet. Denn um Mautpreller zu erwischen, werden alle Fahrzeuge, die unter einer Kontrollbrücke hindurchfahren, auf Video aufgenommen. Die CSU will nun das bayrische Polizeigesetz ändern, um die automatische Erkennung von Nummernschildern zu erlauben. Zumindest für Innenminister Günther Beckstein (CSU) hat sich das Mautprojekt gelohnt.