Kino aus

Sex und Ware auf der Berlinale

Die 54. Berliner Filmfestspiele sollten laut Ankündigung vor allem eins werden: politisch. Das konnte alles Mögliche heißen: kritisches Filmgut zu George Bush, Che Guevara und sozialen Missständen. Politik, die geht alle an. Sozialabbau kennen wir von zu Hause, schauen wir uns doch auch an, wie der in Argentinien funktioniert.

Die Momente der Subjektauflösung im Zuge einer allgemeinen Warenwerdung der Welt können sich da gut einreihen, zumal im Film: Politik gut und schön, aber was bedeutet sie für den Einzelnen und die Einzelne?

Vielleicht sieht es so aus: Offensichtlich bietet sich hier Sex als Stilmittel an. Wenn man zwei oder drei schlecht ausgeleuchteten, unglücklich dreinschauenden Leuten zuschaut, wie sie sich krampfhaft um Zärtlichkeiten bemühen und dabei den Eindruck hinterlassen, sie hätten so etwas in ihrem ganzen Leben noch nicht getan, weiß man, was die Stunde geschlagen hat.

Mit anderen Worten: Wenn Marx mitbekommen hätte, dass sowohl Ober- wie Unterklasse oben wie unten keinen hochkriegen, und wenn, dass das dann ebenso erschreckend ist, dann hätte seine Klassenanalyse wohl anders ausgesehen. Die Warenförmigkeit lässt sich an Menschen, die sich selbst als Ware verstehen, gut darstellen. Das führt über den Kinderporno und endet dann wie im koreanischen Wettbewerbsfilm »Samaria« von Kim Ki Duk beim Organhandel.

Sex sollte also dieses Jahr mit Politik zusammenfallen, das Private ist politisch, so kehrten manche Filme zu einem Diktum der siebziger und achtziger Jahre zurück. Dass Leute in diesen Verhältnissen versuchen, Erfolg zu haben, die in dieser Zeit – Punk! – stehen geblieben sind, bewies Bruce LaBruce mit seinem Panorama-Film »The Raspberry Reich«.

»There is no revolution without homosexual revolution«, schreit die Protagonistin Gudrun. Sie gründet mit ein paar Trotteln die sechste RAF-Generation, auf der Grundlage der Imperialismustheorie, erweitert durch Wilhelm Reich. Ihre Jungs nötigt sie zu gleichgeschlechtlichem Verhalten, einer holt sich vor dem Che-Guevara-Poster einen runter und ballert dabei in die Luft, worauf die Decke runterkommt.

Wenn normalerweise kritisiert wird, Pornos hätten keine Handlung, dann ist es hier umgekehrt: Das Problem an »Raspberry Reich« ist, dass er eine haben soll. Dann laufen Schriftbänder durch, Gudrun schreit weiter wie am Spieß: Der Film sieht so aus, wie sich anno dunnemals die Dead Kennedys anhörten – Groove verboten, was eine traurige Sache ist.

Wie man mit nichts unter dem Arm als einem gelungenen Drehbuch auskommt, hat Richard Linklater mit »Before Sunset« gezeigt: Frau, Mann, Kamera. In 80 Minuten um die Welt, es wird jede relevante Facette einer Liebe durchgenommen, und am Ende haben trotzdem beide die Klamotten noch an. Jetzt, wo es spannend wird, wo sich herausgestellt hat, dass er gleich in ihr Bett steigen wird, da ist der Film zu Ende. Nicht mal auf den finalen Kuss greift Linklater zurück.

Vielleicht hat er das Medium gegen sich selbst gewendet, den Trend zum kurzen abendfüllenden Film. Wer weiß, wo das endet: Hier wird der Moment abgeschnitten, wo die Liebenden sich küssen, als nächstes, wie sie zusammen vor der Haustür stehen, dann, was sie reden, wie sie sich das erste Mal treffen. Der politische Film kommt vielleicht ohne all das aus, gibt keine Zeichen mehr vor, keine künstlichen Vorstellungen, für die man das Haus verlassen muss, und man fängt wieder an, mit der Nachbarschaft zu reden. Womöglich bleibt ein Interesse an Politik übrig, ist der Sex erst mal erledigt: Schatz, mach doch mal das Kino aus. Dann wird in den Sälen der Multiplexe vielleicht Autoscooter gefahren.

jürgen kiontke