Global Player al-Qaida

Nach dem Anschlag in Khobar wollen die Regierungen Saudi-Arabiens und der USA die Märkte beruhigen. Doch der islamistische Terror ist zu einem weltwirtschaftlichen Faktor geworden. von jörn schulz

Wenn einem Unternehmen ganz ohne eigenes Zutun Geld in den Schoß fällt, nennen Wirtschaftsexperten das einen windfall profit. Ökonomen wie George Worthington beziffern die terror premium genannte Differenz zwischen einem auf Angebot und Nachfrage basierenden und dem tatsächlich gezahlten Ölpreis auf acht Dollar pro Barrel. Etwa 80 Millionen Barrel Öl werden täglich verbraucht. Nicht die gesamte Menge wird zu Marktpreisen verkauft, dennoch spülen die Aktivitäten des al-Qaida-Netzwerks jeden Tag Hunderte Millionen Dollar an windfall profits in die Kassen der Ölindustrie und der Förderstaaten.

Deshalb stiegen die Aktien von US-Ölkonzernen nach dem jüngsten Anschlag in Saudi-Arabien. Doch wirklich glücklich ist darüber nicht einmal die Ölwirtschaft. Denn die Aktivitäten des al-Qaida-Netzwerks gefährden die Stabilität des vor allem von den USA, Großbritannien und den Golfmonarchien aufgebauten Systems, das in den vergangenen Jahrzehnten für einen »vernünftigen« Ölpreis sorgte.

Derzeit hat nur Saudi-Arabien bedeutende Überkapazitäten, die eine schnelle Steigerung der Produktion ermöglichen. Und allein die saudische Oligarchie, die mit ihren Investitionen im Westen mehr verdient als mit dem Ölexport, ist bereit, die Förderung zu drosseln, wenn der Ölpreis auf ein Niveau sinkt, das die Stabilität der Förderstaaten gefährden können. In dieser Rolle als swing producer ist das Königreich unentbehrlich.

In Beirut beschloss die Opec am Donnerstag eine Erhöhung der Produktion um zwei Millionen Barrel. Unmittelbaren Erfolg hatte diese Maßnahme nicht. Offenbar glaubt die Geschäftswelt nicht an die Beteuerungen der saudischen Regierung, die Ölanlagen des Landes seien gut geschützt. Da will US-Präsident George W. Bush die Märkte nicht durch unziemliche Kritik beunruhigen. »Er gratulierte dem Kronprinzen zu der Art, wie die Saudis es bewältigten«, referierte seine Sprecherin Pamela Stevens die Reaktion auf das Massaker von Khobar.

Das Vorgehen der saudischen Sicherheitskräfte gibt jedoch eher Anlass zu Fragen als zu Glückwünschen. Recherchen von Arab News zufolge begann der Angriff auf den Wohnkomplex Oasis am vorletzten Samstag zu einem Zeitpunkt, als der Schusswechsel beim einige Kilometer entfernten Petroleum Center noch nicht beendet war. Demnach war eine zweite Gruppe von Terroristen beteiligt. Sollten die Augenzeugen sich nicht geirrt haben, waren die Attentäter in der Lage, sich eine halbe Stunde lang in Khobar frei zu bewegen. Dabei schleiften sie eineinhalb Kilometer weit die Leiche eines Ermordeten hinter ihrem Auto her, ohne von Polizei oder Armee behelligt zu werden.

Anschließend entkamen drei Attentäter aus der von mehreren hundert Polizisten umstellten Wohnanlage. Das saudische Innenministerium behauptete, ihnen sei die Flucht gelungen, weil sie Geiseln als menschliche Schutzschilde benutzten. Doch Terroristen laufen zu lassen, insbesondere wenn sie bereits Geiseln ermordet haben, widerspricht jeder Polizeitaktik. Augenzeugen berichteten gegenüber Arab News, dass die Attentäter zweieinhalb Stunden vor dem Sturm auf das Gebäude geflohen seien. Nur ein Verwundeter, angeblich der Anführer, wurde festgenommen.

Seit einer Serie von Selbstmordanschlägen im vergangenen Jahr geht der saudische Staat härter gegen islamistische Terrorgruppen vor. Doch auch bei früheren Razzien sind in mindestens fünf Fällen bewaffnete Islamisten auf wundersame Weise entkommen. Und dies ist nicht das einzige Indiz für Verbindungen des al-Qaida-Netzwerks zum Sicherheitsapparat und der vom Königshaus geführten Oligarchie.

Die Ideologie der al-Qaida ist die konsequente Zuspitzung des Wahhabismus, der saudischen Staatsdoktrin. Jeder Saudi wird in dem Glauben erzogen, Vertreter einer überlegenen Kultur zu sein, die es mit fanatischer Intoleranz zu verteidigen und zu verbreiten gilt. Taktische Differenzen zu al-Qaida gibt es in der Frage, ob die Verbreitung der islamistischen Doktrin bereits jetzt mit Gewalt erfolgen soll.

Viele westliche Analytiker gehen davon aus, dass der Wahhabismus nur ein innenpolitisches Herrschaftsinstrument für das Königshaus ist, dessen 7 000 Prinzen ansonsten der Dekadenz frönen und sich über den Ertrag ihrer Investitionen im Westen freuen. Doch viele Prinzen und reiche Geschäftsleute spenden eifrig für so genannte Wohlfahrtsorganisationen, die islamistische Terrorgruppen unterstützen.

Seit einem Jahr wird auf islamistischen Websites eifrig debattiert, ob Angriffe auf den saudischen Staatsapparat sinnvoll oder kontraproduktiv sind. Ein Teil des Netzwerks scheint die Hoffnung nicht aufgegeben zu haben, von einer Palastrevolution profitieren zu können. Dass sich die islamistischen Anschläge bislang nie gegen das Königshaus und die Ölindustrie, sondern allein gegen dort arbeitende Migranten richteten, könnte eine Rücksichtnahme auf die Interessen der Oligarchie sein.

Für die zweite Option, den gewaltsamen Sturz der Monarchie, dürfte al-Qaida zu schwach sein. Die Stärke der islamistischen Opposition im streng abgeschirmten Königreich ist allerdings schwer einzuschätzen. Sehr schnell hat al-Qaida auf die Kritik am Tod zahlreicher Muslime bei früheren Attentaten reagiert. Mehrere Augenzeugen bestätigen, dass die Terroristen in Khobar nur Nichtmuslime töten wollten. Bei einem muslimischen US-Ingenieur entschuldigten sie sich sogar für die Störung und die Verschmutzung seines Teppichs mit dem Blut eines angeschossenen Attentäters.

Anschläge des al-Qaida-Netzwerks dienen in der Regel mehreren Zielen. In islamischen Staaten sollen sie eine Polarisierung in der Frage des Umgangs mit den »Ungläubigen« erzwingen. Sie verfolgen Propagandazwecke und beweisen die bleibende Schlagkraft der Organisation. Spätestens seit März aber dominiert eine »realpolitische« Orientierung.

Den Regierungswechsel in Spanien wertete al-Qaida als ersten Erfolg ihrer Terrordiplomatie. Mit der Einbeziehung von Vertretern der italienischen Friedensbewegung in die Verhandlungen über die Freilassung im Irak gefangen gehaltener Geiseln (Jungle World, 21/04) wurde der Versuch fortgesetzt, direkten Einfluss auf die westliche Politik zu nehmen. »Das italienische Volk muss Proteste organisieren, die Präsident Bush verdammen«, forderten die Geiselnehmer in einem am Mittwoch der vergangenen Woche veröffentlichten Video. Die bereits zuvor geplante Massendemonstration werden die Islamisten sich als weiteren Erfolg zuschreiben.

Die Wirtschaft der Industriestaaten durch eine Erhöhung des Ölpreises zu schädigen, soll der westlichen Öffentlichkeit ebenfalls die Vorzüge eines Abzugs aus der islamischen Welt verdeutlichen. Damit ist der islamistische Terrorismus ein weltwirtschaftlicher Faktor geworden. Auch hier wirkt vor allem der psychologische Effekt. Nicht ein einziger Liter Öl wurde wegen der Anschläge in Saudi-Arabien weniger gefördert.

Gänzlich irrational ist die Reaktion der Märkte jedoch nicht. Niemand kann ausschließen, dass al-Qaida doch einen effektiven Schlag gegen die saudische Ölförderung führt. Und jeder weiß, dass ein sklerotisches, zerstrittenes und unberechenbares Regime ein Viertel der bekannten Ölreserven kontrolliert. Wenn der seit Jahren schwer kranke König Fahd stirbt, dürften die Machtkämpfe im Königshaus eskalieren. Fahds Nachfolge soll Kronprinz Abdullah antreten, der derzeit faktisch Regierungschef, mit 79 Jahren allerdings auch kein Jüngling mehr ist. Abdullah erklärte im Mai, es sei »zu 95 Prozent sicher«, dass »zionistische Hände« hinter den islamistischen Anschlägen stecken. Er wird zum gemäßigten Flügel des Regimes gezählt.