Spiegel von Bosnien

Während des Krieges letzter Rückzugsort für Nichtnationalisten, kämpft Oslobodjenje zehn Jahre später ums Überleben. Fünfter Teil einer Serie über linke Medien in Europa. von markus bickel

Hätte Kemal Kurspahic heute noch das Sagen, sähe die Skyline am Stadtrand von Sarajevo anders aus: »Sie hätten die Türme stehen lassen sollen«, sagt der einstige Chefredakteur von Oslobodjenje. Mehr als ein Jahrzehnt lang begrüßte das nach tagelangem Granatbeschuss im Juni 1992 in sich zusammengesackte Redaktionsgebäude Besucher der bosnischen Hauptstadt – und hielt die Erinnerung an die über tausendtägige Belagerung durch Truppen der bosnisch-serbischen Republika Srpska (RS) Radovan Karadzics wach.

Ende 1988 vom Oslobodjenje-Redaktionskollektiv zum Chefredakteur ernannt, stand Kurspahic sechs Jahre lang der Tageszeitung vor, die 1989 von jugoslawischen Journalisten zur »Zeitung des Jahres« gekürt wurde. Das Ziel der bosnisch-serbischen Truppen, die Produktion des Blattes gleich zu Beginn des Bosnien-Krieges zu stoppen, stachelte den Ehrgeiz der Redaktion umso mehr an. »Die zerstörten Türme waren ein Symbol für den gescheiterten Versuch, die Presse zum Schweigen zu bringen«, zeigt sich Kurspahic gegenüber der Jungle World heute noch stolz darauf, dass es gelang, den gesamten Krieg über täglich zu erscheinen. So wurden die Redaktionsräume kurzerhand aus den Twin Towers in den schon zu Titos Zeiten errichteten Atombunker im Keller des Gebäudes verlegt. Dieselgeneratoren lieferten Strom für die Notauflagen von drei- oder viertausend Exemplaren produzierenden Druckmaschinen.

Dass seit Anfang des Jahres die spiegelverglasten Fenster der lokalen Konkurrenz, Dnevni Avaz, die Einfahrt nach Sarajevo schmücken, ist für Kurspahic »Ausdruck der neuen bosnischen Realitäten«. Diese gingen auch an der 1943 noch während der Nazi-Besatzung Jugoslawiens als Widerstandsblatt von Titos Partisanen gegründeten Oslobodjenje – serbisch für »Befreiung« – nicht vorüber: Auf mehr als fünf Millionen Euro ist der während des Krieges entstandene Schuldenberg inzwischen angewachsen. Weshalb es dem Nachkriegsmanagement nicht gelang, die während der Belagerung international erworbene Reputation der Zeitung in bare Münze zu verwandeln, bleibt für Kurspahic ein Rätsel: »Jeder, der im Zeitungsgewerbe tätig ist, sollte doch wissen, dass Investitionen in gute Texte und neugierige, ehrgeizige Journalisten das wichtigste Erfolgsrezept sind.«

So sieht das auch Antonio Prlenda, der im letzten Kriegsjahr zu Oslobodjenje stieß und ein Jahrzehnt später zu den erfahrensten Redakteuren zählt. »Durch das schlechte Management wird die Existenz der Zeitung immer wieder aufs Spiel gesetzt«, sagt der Mittdreißiger im Gespräch mit der Jungle World: Mitte des Monats wartete er noch immer auf die Auszahlung des Gehalts vom September. An den Idealen, die das Kollektiv um Kurspahic Ende der achtziger Jahre zum Bruch mit der vom bosnischen Zentralkomitee des Kommunistischen Bundes vorgegebenen Parteilinie zwang, hält er dennoch fest: »Unser Hauptziel bleibt die Schaffung einer funktionierenden Zivilgesellschaft und die Wiederherstellung multikultureller Werte.«

Das aber ist leichter gesagt als getan. Mit Unterzeichnung des Dayton-Friedensvertrages, der die Kämpfe im Dezember 1995 nach mehr als dreieinhalb Jahren beendete, setzte sich die 1992 von Karadzics Truppen begonnene ethno-nationalistische Spaltung in sämtlichen Institutionen des Landes fest. So hat das Land mit seinen drei Millionen Einwohnern bis heute drei Präsidenten, einen kroatischen, einen serbischen und einen muslimischen, deren Parteien erheblichen Einfluss auf Presse und Rundfunk ausüben. Im mehrheitlich muslimisch bewohnten Sarajevo macht sich vor allem die Dominanz der von Kriegspräsident Alija Izetbegovic gegründeten nationalistischen Partei der Demokratischen Aktion (SDA) bemerkbar.

Kritik an der in Dayton geschaffenen internationalen Protektoratsverwaltung des Hohen Repräsentanten, wie sie von Kurspahic auf den Punkt gebracht wird, findet sich deshalb immer wieder in den Leitartikeln der knapp 50köpfigen Redaktion: »Auch wenn der Dayton-Vertrag der notwendige Preis gewesen sein mag, den Krieg zu beenden, beließ er die Macht in den Händen derjenigen, die die meiste Verantwortung für den Krieg trugen.«

Zwar halten sich die Geschäftsführung und die Blattmacher bis heute an die Ende der achtziger Jahre vorgegebene Linie multikultureller Toleranz, wie sie auch von der nichtnationalistischen Sozialdemokratischen Partei (SDP) verfolgt wird. Doch die während der kurzen Regierungszeit von SDP-Chef Zlatko Lagumdzija zwischen 2000 und 2002 deutlich gewordene Nähe zu den Sozialdemokraten geht nicht nur Prlenda zu weit: »Mir wäre es lieber, wenn wir nicht so sehr einer Partei nahe stünden.« Neben der Tatsache, dass viele erfahrene Kolleginnen und Kollegen bereits während des Krieges ins Exil gingen, nennt er die mangelnde Nachwuchsausbildung als Grund für die Anfälligkeit, den Vorgaben der einen oder anderen Parteizentrale einfach zu folgen.

Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt – mehr als 60 Prozent der Bevölkerung sind ohne Job – erschwert es zusätzlich, der Leserschaft eine unabhängige politische Perspektive zu vermitteln. Das sind Probleme, mit denen die erst während des Krieges entstandene kritische Wochenzeitung Dani und die in der Hauptstadt der Republika Srpska herausgegebene, für ihre investigativen Recherchen im bosnisch-serbischen Kriegsverbrechermilieu bekannte Tageszeitung Nezavisne Novine ebenfalls zu kämpfen haben. Als »Spiegel der Gesellschaft« bezeichnet Prlenda denn auch die missliche Lage auf dem Zeitungsmarkt.

So gesehen hatten es Kurspahic und sein Team Ende der achtziger Jahre leichter. Während liberale Blätter wie die Belgrader Politika oder Vjesnik aus Zagreb zunehmend unter den Druck der nationalistisch-autoritären Regime Slobodan Milosevics und Franjo Tudjmans gerieten, begann in Sarajevo der kurze »bosnische Frühling«: Staatsfernsehen und Oslobodjenje entledigten sich des effektivsten Instruments kommunistischer Medienkontrolle – der Ernennung von Herausgebern, Chefredakteuren und Geschäftsführern durch die Parteizentrale –, so dass unabhängige Publizisten und kritische Karikaturisten plötzlich Platz fanden in den seit den fünfziger Jahren als bloße Sprachrohre fungierenden Redaktionen.

Wie während der Wende in anderen staatssozialistischen Staaten Osteuropas orientierten sich die bosnischen Blattmacher dabei weniger an einer einheitlichen politischen Linie, sondern verabschiedeten sich von ideologischen Vorgaben: Das Recht auf freie Meinungsäußerung, erinnert sich Kurspahic heute, pluralistische Kritik an den Positionen der herrschenden Parteioligarchie und das Aufdecken der zahlreichen Affären führender Apparatschiks waren die wichtigsten Punkte im schon bald durch den Kriegsbeginn unterbrochenen Prozess publizistischer Befreiung der einstigen Parteiorgane.

Dass die Redaktion dabei mehr als einmal an die Grenzen ihrer politischen Belastbarkeit stieß, nahm Kurspahic, der im vorigen Jahr für sein »Prime Time Crime« betiteltes Buch über die Nachkriegsentwicklung der ex-jugoslawischen Medien mit dem Award for Better Understanding der South East Europe Media Organisation (Seemo) ausgezeichnet wurde, gerne in Kauf. Karadzic etwa konnte den Gründungsaufruf seiner anfangs noch Sozialistischen, später zur Serbischen Demokratischen umbenannten Partei (SDS) in der Sonntagsbeilage von Oslobodjenje veröffentlichen, und auch die Ansichten des Oberbefehlshabers der Jugoslawischen Volksarmee, Blagoje Adzic, fanden noch während des Kroatien-Krieges in einem Interview unzensiert Platz.

Knapp ein Jahrzehnt nach Ende des Bosnien-Krieges ist Kurspahic jedoch mehr als skeptisch, ob seine Vision für die Zeit nach den Kämpfen – Oslobodjenje zur »meistverkauften und einflussreichsten Zeitung auf dem Balkan« zu machen – jemals realisiert werden kann. Zumindest was die Auflage anbelangt, hat das heute in den renovierten Redaktionstürmen untergebrachte Boulevardblatt Dnevni Avaz dem Traditionsorgan längst den Rang abgelaufen.