»Warum arbeitet Rüsselsheim noch?«

Jürgen Schwartz

Seit die Pläne von General Motors bekannt wurden, in den nächsten zwei Jahren 12 000 Stellen in Europa abzubauen, stehen in der größten Opel-Fabrik alle Bänder still. Der IG Metall drohe die Kontrolle bei Opel in Bochum zu entgleiten, warnt bereits die Frankfurter Allgemeine. Derzeit sind in Bochum 9 600 Menschen beschäftigt, 4 000 dieser Stellen will GM streichen.

Jürgen Schwartz ist Mitglied der IG Metall und sitzt für die linke Betriebsgruppe »Gegenwehr ohne Grenzen« im Bochumer Betriebsrat. Die seit 1972 existierende Gruppe und gibt eine Betriebszeitung heraus. Schwartz begann 1988 in der Fertigmontage am Band, seit zehn Jahren gehört er dem Betriebsrat an. Mit ihm sprach Deniz Yücel.

Herr Schwartz, streiken Sie?

Man kann es Streik nennen oder Ausstand. Oder man kann weiterhin sagen, dass die Belegschaft ihr Informationsrecht wahrnimmt. Fest steht nur, dass die Spätschicht am vergangenen Donnerstag die Arbeit niedergelegt hat. Seitdem hat kein Auto und kein Lkw mit Komponenten für andere Betriebe das Bochumer Werk verlassen.

Wie kam es dazu?

Wir wurden mittags von unserer Betriebsratsspitze über den geplanten Stellenabbau informiert. Der Betriebsrat hat die Vertrauensleute unterrichtet, die die Informationen sofort an die Beschäftigten weitergeleitet haben. Dann ging es sehr schnell, die Kolleginnen und Kollegen haben die Arbeit niedergelegt, sind vor das Werkstor gezogen und haben eine Stellungnahme der Bochumer Werksleitung verlangt.

Wer hat dazu aufgerufen, die Arbeit niederzulegen?

Niemand, weder der Betriebsrat, noch die IG Metall oder die Leitung der Vertrauensleute. Die Beschäftigten haben das spontan entschieden.

So ein Protest entsteht spontan?

Über Wochen hinweg hatten sich Frust und Wut gestaut, täglich gab es neue Horrormeldungen. Die Empörung ist mit einem Mal ausgebrochen.

Der stellvertretende Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, fordert die Bochumer Arbeiter dazu auf, wieder zu arbeiten.

Das soll er der Belegschaft bitteschön selber mitteilen. Die Gewerkschaftsführung will in Verhandlungen mit General Motors treten, weshalb ihr an einer schnellen Wiederaufnahme der Produktion gelegen ist. Aber dazu wird der Bochumer Betriebsrat am Montag auf keinen Fall auffordern. Ob gearbeitet wird oder nicht, entscheidet die Belegschaft selbst. Am Dienstag gibt es einen europaweiten Aktionstag. Wir hoffen, dass auch die anderen europäischen Belegschaften sich beteiligen.

Der Rüsselsheimer Betriebsratsvorsitzende, Klaus Franz, der auch der deutschen und der europäischen Arbeitnehmervertretung vorsteht, will das Wort Streik nicht in den Mund nehmen.

Franz ist ein ausgeprägter Co-Manager. Auf ihn ist die Bochumer Belegschaft derzeit nicht gut zu sprechen. Unsere Kollegen fragen: Warum arbeitet Rüsselsheim noch?

Nun, wenn es nach GM geht, auch nicht mehr lange. Nicht mal am arbeitsfreien Samstag gab es in Rüsselsheim Proteste, ebenso wenig wie in Kaiserslautern und Eisenach. Was läuft in Bochum anders?

Ich kann mit vorstellen, dass der Rüsselsheimer Betriebsrat die Belegschaft nicht so ausführlich informiert, geschweige denn mobilisiert. Der Bochumer Betriebsrat besteht auch aus mehreren Fraktionen. Und hier sind in den letzten Jahren ganz andere Aktionen gelaufen. Wir hatten mehrere Streiks, zuletzt im Sommer 2000 gegen die Ausgliederung von Teilen der Belegschaft aus den Opel-Beschäftigungsverhältnissen. Auch die jüngeren Kollegen haben Kampferfahrung. Und hier wird nicht alles dem Betriebsrat überlassen. Die Stimmung ist sehr kämpferisch.

Wann wird sich der Produktionsausfall in anderen GM-Werken bemerkbar machen? Und wie lange soll der Streik, der nicht Streik heißt, weitergehen?

Der Ausfall wird sich schon Anfang dieser Woche bemerkbar machen. Unsere Mindestforderung lautet, dass General Motors zusichert, in Bochum niemanden zu entlassen. Wir stehen erst am Anfang eines langen und harten Kampfes. Ich hoffe, dass die Belegschaft durchhält und wir betriebsbedingte Kündigungen verhindern können.

Wie ist die Stimmung in der Stadt?

Schulklassen kommen an die Werkstore, Bäcker und Metzger verteilen kostenlos Brötchen und Wurst, die Leute spenden Geld. Gewerkschafter von Verdi waren am Werkstor und haben ihre Solidarität bekundet, Vertrauensleute von Thyssen, von Ford usw. Aus der ganzen Bundesrepublik stapeln sich die Solidaritätsgrüße. Die Solidarität ist sagenhaft, und sie ist wichtig.

Im Sommer hat die Geschäftsführung einen Forderungskatalog präsentiert, der sich auf die Formel »Mehr arbeiten, weniger verdienen« zusammenfassen lässt. Der Betriebsrat hat das zurückgewiesen. Wären Sie, wären der Betriebsrat und die Belegschaft angesichts des drohenden Stellenabbaus zu diesen Zugeständnissen bereit?

Das wird man sehen. Wir müssen Entgegenkommen zeigen, aber viele Kollegen und Betriebsräte sagen: Wir haben keinen Grund zu verzichten, weil der Verzicht unsere Arbeitsplätze nicht sicherer gemacht hat. Trotz drei so genannter Standortsicherungsverträge, die wir in den letzten zehn Jahren abgeschlossen haben, wurden in diesem Zeitraum allein in Bochum 10 000 Stellen abgebaut. Und das Management von General Motors versucht uns zu erpressen, nicht zuletzt dadurch, dass international ein Werk gegen das andere ausgespielt wird.

Diesen Zugeständnissen, etwa der Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden, hat der Betriebsrat ja zugestimmt. Ein Fehler?

Wie sich heute zeigt: Ja.

Bei Daimler wurden Zugeständnisse in Sachen Arbeitszeiten und Einkommensbestandteilen erzwungen, bei VW steht Ähnliches bevor. 80 Prozent der Beschäftigten in der Automobilindustrie sind in der Gewerkschaft organisiert, aber es gibt keinen betriebsübergreifenden Widerstand. Warum?

Obwohl sich die Gewerkschaften nicht zuletzt deshalb gegründet haben, um einen Unterbietungswettbewerb zu verhindern, versäumt es die IG Metall, ihre anderthalb Millionen Mitglieder betriebs- oder und gar branchenübergreifend zu mobilisieren. Ich habe keine Hoffnung, dass die Führung der IG Metall einen solchen Widerstand organisieren wird, das müssten die Belegschaften selber in die Hand nehmen. Auch bei Opel sollten wir es nicht den IG-Metall-Spitzenfunktionären überlassen, die Sache mit General Motors allein auf dem Verhandlungsweg zu regeln.

Die Arbeiterschaft bei Opel war immer eine privilegierte, die Bezahlung liegt 30 Prozent über dem Tarifniveau. Dass in Rüsselheim oder Bochum viele Jobs indirekt an Opel hängen, ist klar. Aber warum sollten Leute, die in Call-Centern arbeiten oder Arbeitslose, die zu Ein-Euro-Jobs gezwungen werden, sich mit den Opel-Arbeitern solidarisieren?

Es muss allen klar sein, dass solche gravierenden Einschnitte in Großbetrieben weit reichende Folgen haben. Wenn bei Opel oder VW die Löhne gedrückt werden, werden Leute, die jetzt gezwungen sind, für sechs oder sieben Euro zu arbeiten, dem Druck ausgesetzt sein, für noch weniger zu arbeiten.

Die stellvertretende DGB- Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer glaubt, dass die Haltung der Bundesregierung zum Irakkrieg die Pläne von General Motors beeinflusst habe. In einem Flugblatt des Rüsselsheimer Betriebsrats hieß es, dass »führende GM-Manager den Standort Deutschland in den Schmutz ziehen«. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ich halte das für eine abenteuerliche Aussage. Dem Management geht es nicht darum, irgendeinen Standort zu beschmutzen, sondern hohe Profite zu erzielen.