Tanz zum Radioballett!

Die Radiogruppe Ligna lud am Wochenende zu einer Zerstreuung in die Hamburger Innenstadt. von

Kann man hier was gewinnen?« Die junge Passantin, die sich ihrem Weihnachtseinkauf widmet, versteht die Welt nicht mehr. Große Verwirrung herrschte am Samstag in der Mönckebergstraße, in Hamburgs Hauptflaniermeile. Da küssten Menschen scheinbar völlig von Sinnen den Boden, verbeugten sich vor den Waren in den Schaufenstern, tanzten hemmungslos zwischen den Passanten und riefen laut und grundlos: »He, Sie da!«

Die Radiogruppe Ligna hatte zu ihrem so genannten Radioballett geladen, und knapp 500 Menschen folgten dem Aufruf in die Innenstadt. Über das örtliche Freie Senderkombinat (FSK) erhielten die Teilnehmer die genaue Anleitung für »Übungen zum nichtbestimmungsgemäßen Verweilen«. Doch um was geht es der Gruppe Ligna, was soll ein Radioballett?

»Die Grundidee ist, dass das Radio die Choreographie für Gesten zur Verfügung stellt, die in dem jeweiligen Raum eigentlich Tabus darstellen«, erklärt Ole Frahm von Ligna. Es handelt sich nicht um eine Kundgebung oder eine Versammlung; die Menschen laufen mit ihren Radiogeräten zerstreut durch die Stadt, bleiben stehen, gehen rückwärts und pressen ihre Nasen an die Schaufenster. Von Zeit zu Zeit treffen sie sich zu gemeinsamen Übungen, verlaufen sich dann aber ebenso schnell wieder.

Die ungewöhnlichen Gesten, die Störung des Weihnachtseinkaufs durch anormale Ereignisse und die Kritik am Fetisch der Ware erzeugen Verunsicherung unter den Passanten. Fast jeder, der mit einem Radio an diesem Tag unterwegs ist, wird immer wieder von Zuschauern angesprochen. »Warum macht ihr das?« wollen die Leute wissen. »Wer bezahlt das?«

»Die Menschen suchen nach Erklärungen für unnormales Verhalten«, sagt Ole Frahm. Die Idee des Radioballetts entwickelte die Gruppe in Hamburg bereits vor knapp zwei Jahren. Auch in anderen Städten wurde die Idee inzwischen aufgegriffen, etwa in Leipzig und Wien. »Das Radioballett bietet die Chance der linken Intervention im öffentlichen Raum, auch an neuralgischen Punkten, die sonst politisch tabu sind«, beschreibt Frahm die Möglichkeiten dieser Form des Protests. Bereits bei ihrer ersten Aktion im Hamburger Hauptbahnhof wurden die Balletttänzer mit dem Sicherheitsdienst konfrontiert; die Bahn AG hatte zuvor versucht, die Aktion zu verbieten.

Im Herbst vor zwei Jahren konnten in der Hamburger Innenstadt bereits Erfahrungen gesammelt werden. Damals, im heißen Bambule-Herbst, nach der Räumung des Bauwagenplatzes Bambule, glich die Hamburger Innenstadt einer Festung. Durch den Aufruf von Ligna und dem FSK, allein mit Radiogeräten in die Stadt zu kommen, dem politischen Radioprogramm zu lauschen und sich zu zerstreuen anstatt sich zu versammeln, konnte damals das Demonstrationsverbot elegant umgangen werden. Die Polizei zeigte sich etwas verunsichert. Zwar erteilte sie einzelnen Menschen Platzverweise, doch die Aktion selbst konnte sie nicht unterbinden.

Auch am vorigen Samstag erschien nach einer Stunde eine Gruppe von behelmten Polizeibeamten. Doch in diesem Jahr verläuft der Protest wesentlich ruhiger, und so begnügte sich die Polizei mit der Beobachtung. Was sollen die Beamten auch tun? Die Menschen lassen sich weder ins Spalier nehmen oder einkesseln, noch tun sie etwas Verbotenes. Sie lauschen dem Radioprogramm und fallen höchstens durch ungewöhnliche Gesten auf. So endete die Aktion nach eineinhalb Stunden friedlich vor einem Kaufhaus. Sie hinterließ viele Fragen bei den Passanten. Aber die Einkäufe konnten weitergehen.