Der Ellenfaktor

Die britische Profiseglerin Ellen MacArthur hat einen neuen Weltrekord im Weltumsegeln aufgestellt und die männliche Konkurrenz deklassiert. von christian stock

Der Sport ist eines jener Felder, an dem sich die ganze Ambivalenz des postmodernen Kapitalismus besonders gut studieren lässt. Auf der einen Seite steht der absolute Imperativ von Leistung, Konkurrenz und Kommerzialisierung, der die Sportler zum Fetisch von sensationsgierigen Öffentlichkeiten und publicityträchtigen Sponsoren degradiert. Auf der anderen Seite bietet Sport mehr als andere gesellschaftliche Bereiche die Chance, sich durch individuelle Leistung hervorzutun und diskriminierenden Rollenzuschreibungen wenigstens partiell zu entgehen. Wenn Schwarze Olympiamedaillen gewinnen oder Jutta Kleinschmidt die Rallye Paris-Dakar gewinnt, haftet dem immer auch ein Moment von Befreiung an, das seine faszinierende Wirkung weder bei Konformisten noch bei kritischen Geistern verfehlt.

Vielleicht ist es genau dieses Moment, das die ungeheure Popularität der britischen Profiseglerin Ellen MacArthur ausmacht. Als sie am Montag vergangener Woche mit ihrem Zieleinlauf vor der französischen Atlantikküste einen neuen Weltrekord im Einhandsegeln (also solo) um die Welt aufstellte, brach weltweit Begeisterung aus. In der Tat ist MacArthurs Leistung spektakulär: Mit 71 Tagen und 14 Stunden blieb sie anderthalb Tage unter dem bisherigen Rekord, den der Franzose Francis Joyon Anfang 2004 aufgestellt hatte. Dabei ist die 1,58 m große Britin gegenüber den fast ausnahmslos männlichen Hochsee-Einhandseglern stark benachteiligt, erfordert doch die manuelle Bedienung der Segel enorme Kräfte. Wenn MacArthur gegen Joyon antritt, ist das in etwa so, wie wenn ein Fliegengewichtler gegen einen Schwergewichtler boxt.

Bereits die erfolgreiche Beendigung einer Nonstop-Solo-Weltumsegelung erfordert extreme Anstrengungen. Erst recht auf einem auf Höchstgeschwindigkeit gepushten und spartanisch ausgestatteten Rennboot – an Bord ist gerade mal ein Wasserkocher vorhanden, um damit Trockennahrung zuzubereiten. MacArthur meisterte alle Widrigkeiten wie Stürme, Flauten, Materialschäden oder Einsamkeit souverän. Eine der härtesten Herausforderungen ihrer Rekordfahrt war das Schlafmanagement. Wegen der bei stärkerem Wind und Seegang ständig drohenden Kentergefahr, vor allem aber wegen möglicher Kollisionen mit Treibgut, Eisbergen und anderen Schiffen, ist ständige Wachsamkeit erforderlich. Mehr als eine Stunde Schlaf am Stück war nicht möglich, in der Regel musste sich MacArthur sogar mit Minutenschlaf begnügen. Gerade mal drei Stunden pro Tag kamen dabei im Schnitt zusammen.

Nur durch langjähriges Schlaftraining unter Anleitung eines Schlafforschers war MacArthur in der Lage, unter diesen Bedingungen jederzeit nervliche und körperliche Höchstleistungen zu erbringen. Doch auch sie klagt in ihrem Logbuch: »Ich bin total zerschlagen, immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich verzweifelt gegen den tosenden Wind anschreie. Ich bin so müde wie noch nie in meinem Leben.« Auf den nächtlichen Sturmfahrten im Southern Ocean, den antarktischen Gewässern südlich des 60. Breitengrades, kommt sie sich vor wie auf »einem außer Kontrolle geratenen Zug, der ohne Licht durch die Nacht fährt«.

Wie kam eine 28jährige Frau dazu, sich das freiwillig anzutun? An ihrer Familie liegt es jedenfalls nicht. Denn MacArthur widerlegt nicht nur das landläufige Bild von Weltumseglern, nämlich dass diese graubärtige männliche Seebären sein müssen, sondern auch, dass ihnen die Seefahrt in die Wiege gelegt wird. MacArthur wuchs fernab der Küste in Mittelengland auf und musste sich ihr erstes kleines Boot gegen den Widerstand der Eltern als Zehnjährige vom Schulessensgeld absparen. Mit 17 Jahren umrundete sie Großbritannien alleine, mit 18 bestand sie die Prüfungen für den höchsten Segelschein mit Auszeichnung.

Ihren großen Traum vom Hochseeregattasegeln – möglichst solo – setzte MacArthur fortan zielstrebig in die Realität um. Nach einigen Lehrjahren bei erfahrenen Regattaseglern gelang es ihr trotz chronischen Geldmangels, 1997 als einzige Frau am Transat teilzunehmen – einem harten Transatlantikrennen, das auf gerade mal 6,5 Meter langen Nussschalen ausgetragen wird. Sie errang einen Achtungserfolg, der ihr die Türen beim Handelskonzern Kingfisher öffnete. Dessen Management sah in der ungewöhnlichen jungen Frau die Chance, einen Marketing-Coup zu landen. Nach einigen erfolgreichen Rennen auf verschiedenen Booten stellte Kingfisher ihr drei Millionen Euro für die Teilnahme an der legendären Vendée Globe 2000/2001 zu Verfügung – der hochkarätigen Einhandregatta um die Welt.

Mit einem 18 Meter langen High-Tech-Boot, an dessen Bau die inzwischen auch zur technischen Expertin gereifte MacArthur aktiv beteiligt war, gelang ihr das von niemandem Erwartete: Nach nur 92 Tagen rauschte sie als Zweite durchs Ziel und deklassierte nahezu die gesamte männliche Elite der Einhandsegler. Als sie nachts in den französischen Hafen Les Sables einlief, warteten eine Viertelmillion Menschen auf sie, mehr als auf den Sieger. Ein Heldinnenmythos war geboren, die Begeisterung der Franzosen über die »petite Anglaise« war riesengroß. Mit ihrem Jahrhundert-Coup avancierte die »Windsbraut« (taz) MacArthur weltweit zur lebenden Segelikone. Sie erhielt einen Ehrendoktortitel ebenso wie die Auszeichnung Member of the British Empire und gründete eine Stiftung für krebskranke Kinder. Im Alter von gerade einmal 25 Jahren schrieb sie ihre Autobiographie mit dem Titel »Ich wollte das Unmögliche«.

Doch schon bald nervte MacArthur der Rummel an Land, sie fühlte sich ausgebrannt und hatte Konflikte mit ihren Freunden und Mitarbeitern, die im Hintergrund an ihrem Erfolg mitwirkten. Die Befreiung von der Medienöffentlichkeit und den Anforderungen der Sponsoren gelang ihr paradoxerweise erst, als sie auf noch spektakulärere Mehrrumpfboote umstieg und auf mehrere Rekordfahrten ging. Eine Flucht nach vorn, die für MacArthur bezeichnend ist.

Nur ein Traum blieb vorerst unerfüllt: Der Weltrekord im Einhandsegeln um die Welt. Doch mit der ihr eigenen Beharrlichkeit (»Ziele sind Träume mit Termin«) arbeitete MacArthur auch daran. Mit Unterstützung von Kingfisher und der französischen Baumarktkette Castorama ließ sich MacArthur einen 24 Meter langen Hi-Tech-Trimaran aus Kohlefaser bauen. Der millionenteure Dreirumpfer wurde konsequent auf ihre Körpergröße und -kräfte ausgelegt. Minutiös bereitete sie sich auf die Rekordfahrt vor, rüstete das Boot mit modernster Navigations- und Kommunikationselektronik aus. Zwölf automatische Kameras lieferten rund um die Uhr Bilder, die per Satellit an Fernsehanstalten gesendet wurden und auf Webseiten verfügbar waren. Als MacArthur Ende November 2004 in See stach, war die Öffentlichkeit virtuell mit an Bord und ihr Boot ein segelnder Big-Brother-Container. Das Interesse war immens: Gegen Ende der Rekordfahrt brach MacArthurs Webseite wegen zu vieler Zugriffe zusammen.

Wieder einmal tat der »Ellenfaktor« – wie die Segelpresse MacArthurs Genderversion des David-gegen-Goliath-Mythos nennt – seine Wirkung. Der am Rekordboot angebrachte Schriftzug »You can do it« nährte die Träume von Millionen Menschen. Lässt sich das prekäre Verhältnis von individueller Freiheit und neoliberalem Leistungswahn besser auf den Punkt bringen als mit diesem an die Nike-Werbung erinnernden Wahlspruch von MacArthur?