Der erste Kuss

Pakistans Präsident Musharraf will die Beziehungen zu Indien verbessern. Die Islamisten protestieren, doch in der pakistanischen Gesellschaft wird der Widerspruch gegen den Tugendterror stärker. von jörn schulz

Cricket scheint wie geschaffen für die britischen Gentlemen, die es erfunden haben, um sich zwischen Teatime und Cocktail Hour etwas Bewegung zu verschaffen. Das Regelwerk ist komplex, und eine Spielserie dauert fünf Tage, an denen jeweils drei etwa zweistündige Runden ausgetragen werden. In den ehemaligen britischen Kolonien weckt das Spiel jedoch Leidenschaften nicht immer nur sportlicher Art. Vor Spielen zwischen Pakistan und Indien wurden häufig Ausgangssperren verhängt, dennoch kam es immer wieder zu Gewalttaten.

Vor zwei Jahren begann jedoch ein zaghafter Annäherungsprozess zwischen Indien und Pakistan, und gegenseitige Besuche der Cricketteams wurden ein wichtiges Mittel der Entspannungspolitik. Als das pakistanische Team am Sonntag im Stadion von New Delhi gegen Indien antrat, war neben 2 000 aus dem westlichen Nachbarland angereisten Fans auch Pervez Musharraf anwesend. Der Präsident Pakistans nutzte die Gelegenheit für die symbolische Geste, gemeinsam mit dem indischen Premierminister, Manmohan Singh, beide Teams zu begrüßen.

»Die Cricketdiplomatie scheint zu funktionieren«, urteilt Khalid Mehmud vom pakistanischen Institute for Regional Studies. »Sie bringt die Führung der beiden Länder einander näher.« Die Verhandlungen am Sonntag bezeichnete Singhs Sprecher Sanjaya Baru als »sehr positiv«.

Der Entspannungsprozess ist bislang eher symbolischer Art. Anfang April wurde der Busverkehr zwischen dem pakistanischen und dem indischen Teil Kaschmirs nach fast 60 Jahren wieder aufgenommen. Nun soll der Linienverkehr erweitert werden, und auch Lastwagen sollen die Waffenstillstandslinie passieren dürfen. Dies ist ein erster zaghafter Versuch, die wirtschaftlichen Kontakte zu intensivieren. Das indisch-pakistanische Handelsvolumen beträgt nur ein Prozent der Gesamtexporte beider Länder.

Verhandelt wurde auch über weitere »vertrauensbildende Maßnahmen« im militärischen Bereich. Die Truppenstärke im Gletschergebiet von Siachen, wo sich die Artilleristen beider Seiten in einer Höhe über 7 000 Metern belauern, soll reduziert werden. Indien stellte auch eine Truppenreduzierung in Kaschmir in Aussicht. Sie sei aber nur möglich, wenn die Infiltration islamistischer Terroristen aus Pakistan auf niedrigem Niveau bleibt, erklärte M. K. Naryanan, Sicherheitsberater der indischen Regierung.

Immerhin scheinen die Regierungen beider Staaten entschlossen zu sein, es nach drei Kriegen seit der Unabhängigkeit nicht zu einem vierten kommen zu lassen. Die Ablösung der hindu-nationalistischen BJP-Regierung in Indien durch die säkulare Kongress-Partei hat die Entspannung erleichtert. In Pakistan hat sich Musharraf zu einer Politik durchgerungen, die er selbst als »aufgeklärte Mäßigung« bezeichnet. Er will »die Religion zurückgewinnen, wo sie zur Geisel von Extremisten geworden ist«. Vor dem Beginn der politischen Gespräche in Indien betete er im Schrein des Sufi-Heiligen Khwaja Muinuddin Chishti. Damit demonstrierte der Präsident seine Frömmigkeit, distanzierte sich aber zugleich von den Islamisten, die die Heiligenverehrung der Sufi-Bruderschaften für gottlos erklären.

Der US-Regierung gilt Musharrafs Politik als vorbildlich für den angestrebten Reformprozess in islamischen Staaten. Seit 1990 hielten die USA bereits gekaufte F-16-Kampfflugzeuge zurück, weil sie den nuklearen Ambitionen Pakistans misstrauten. Im März genehmigte Präsident George W. Bush die Auslieferung, obwohl Pakistan seit 1998 eine Atommacht ist. Um die empörten Inder zu besänftigen, erhielten auch sie die Genehmigung, die begehrten Flugzeuge zu erwerben.

Im Konflikt mit Indien hat die »aufgeklärte Mäßigung«, vor allem der Verzicht auf die Unterstützung in Kaschmir operierender Jihadisten, zur Entspannung beigetragen. Der innenpolitische Erfolg ist jedoch fraglich. Musharrafs Strategie, die Islamisten durch die staatliche Kontrolle über religiöse Institutionen und die Förderung eines regimetreuen Staatsislam auszubooten, wurde bereits von anderen muslimischen Herrschern erprobt und hat meist zu einer Stärkung des Islamismus geführt. Sie bietet den Islamisten die Möglichkeit, sich als konsequenteste Vertreter einer anerkannten, aber von korrupten Politikern verfälschten Doktrin und als Kämpfer gegen die Diktatur zu präsentieren.

Entgegen früheren Zusagen legte Musharraf seine Uniform nicht am 31. Dezember 2004 ab, der Präsident will auch die militärische Führung behalten. Die »aufgeklärte Mäßigung« sei nichts anderes als »uniformierte Demokratie«, kritisiert Syed Munawar Hasan von der Jamaat-e-Islami, der bedeutendsten islamistischen Partei Pakistans. Musharraf »vergisst die Grundstruktur der muslimischen Gesellschaften«, wenn er »Frauen in Shorts auf die Straßen bringen will«.

Die Anfang April in mehreren Städten veranstalteten Marathonläufe wurden von Aktivisten des Dachverbands MMA, der die Jamaat-e-Islami und andere islamistische Parteien vereinigt, angegriffen. Shorts trugen die teilnehmenden Frauen nicht, doch es genügte, dass sie gemeinsam mit Männern liefen. Diesmal stieß der Tugendterror jedoch auf Widerstand, es kam zu antiislamistischen Protestdemonstrationen.

Ihre stärksten Bastionen haben die Islamisten in Balochistan und der North West Frontier Province, wo sie sich mit reaktionären Clanführern verbündet haben. In den Städten dagegen ändert sich die Grundstruktur der muslimischen Gesellschaft. Die strengen pakistanischen Zensurgesetze, die es unter anderem verbieten, dass im Fernsehen Küsse und in den Kinos indische Filme gezeigt werden, haben zur Entstehung eines florierenden Schwarzmarktes für die Produkte Bollywoods und der indischen Musikindustrie geführt.

Die politische Organisation der Säkularisten ist schwach, jenseits der Lager des frömmelnden Militärherrschers und der islamistischen Eiferer hat sich noch keine eigenständige Bewegung entwickelt. Es dürfte jedoch Islamisten und Nationalisten gleichermaßen beunruhigen, wenn bei einer Online-Umfrage von MuziqPakistan über die Pläne für die Feier der staatlichen Unabhängigkeit 31 Prozent angeben, sie schliefen an diesem Tag.

Die Bollywood-Diplomatie hat Pakistanis und Inder einander schon näher gebracht als die Cricketdiplomatie. In dem jüngst fertig gestellten Film »Nazar« küsst die pakistanische Schauspielerin Meera den Hindu Ashmit Patel. Es kam zu empörten Protesten und Drohungen. »Vielleicht wollen sie, dass ich in dem Film eine Burka trage«, mutmaßte Meera. Sie hofft auf weitere Rollen in indischen Filmen und will nun erst recht als »Botschafterin des Friedens« auftreten.