Gedenken und vergessen

Die Präsidenten Estlands, Litauens und der Ukraine haben ihre Teilnahme an den Gedenkfeiern am 9. Mai in Moskau abgesagt. In osteuropäischen Staaten gelten die Sowjets weniger als Befreier denn als Besatzer. von alexander korb und stefan link

In Moskau werden sich am 9. Mai fast alle Staats- und Regierungschefs treffen, deren Länder am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, um dessen Ende vor 60 Jahren und den Sieg über den Nationalsozialismus zu feiern. Doch in den drei baltischen Staaten sowie in Polen und der Ukraine gab es nach der Einladung Streit über eine mögliche Teilnahme an der Feier. Am 9. Mai, so hieß es immer öfter, gebe es nichts zu feiern für die Bürger Ostmitteleuropas, da die nationalsozialistische Besatzung nur durch eine sowjetische abgelöst worden sei. Die Sowjetisierung und der Kampf für die nationale Unabhängigkeit sind in vielen postkommunistischen Ländern Osteuropas das zentrale geschichtspolitische Thema. Deutsche Besatzung, Kollaboration und Judenmord gelten als zweitrangig. Die Präsidenten Estlands, Litauens und der Ukraine sagten die Teilnahme an den Gedenkfeiern ab.

Der Zweite Weltkrieg begann für das Baltikum mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941. Doch als der eigentliche Kriegsbeginn gilt vielen Balten der August 1939, als die Sowjetunion und das Deutsche Reich in einem Pakt ihre Interessensphären absteckten und die baltischen Staaten daraufhin von der Roten Armee besetzt wurden. Seine Ablehnung der Feiern in Moskau begründete der ehemalige Präsident des unabhängigen Litauens, Vytautas Landsbergis, damit, dass der Gastgeber selbst Verursacher dieses Krieges sei, dessen Ende nun gefeiert werde. Zwar habe die UdSSR den Krieg im Verein mit Hitler ausgelöst, aber ihre Verantwortung sei unbestreitbar.

Die Besetzung der drei Republiken und ihre Eingliederung in die Sowjetunion bedeutete eine Zäsur, die die nationale Unabhängigkeit und viele Bürger ihre Freiheit oder das Leben kostete. Teile der Wirtschaft wurden verstaatlicht, sämtliche politische und zahlreiche religiöse und kulturelle Vereinigungen wurden aufgelöst. Acht Tage vor dem deutschen Einmarsch wurden im gesamten Baltikum Tausende Menschen verhaftet. Die Verhaftungswelle war ein Schlag gegen die wirtschaftlich und kulturell tonangebenden Schichten. Die Mehrzahl der Gefangenen wurde in das Innere der Sowjetunion deportiert. So wurden viele Juden unter den Verhafteten ungewollt vor dem Zugriff der Deutschen gerettet.

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion bildeten sich vielerorts baltische Milizen und griffen die abziehende Rote Armee an. Die deutschen Truppen wurden bei ihrem Eintreffen freudig als »Befreier« begrüßt. Doch die Wiederherstellung politisch selbständiger baltischer Republiken entsprach nicht den deutschen Plänen. Zwar bestanden die Verwaltung und die Polizei aus einheimischen Kräften, die Bildung unabhängiger baltischer Verbände wurde jedoch nicht zugelassen. Stattdessen schuf die Waffen-SS innerhalb ihrer Verbände lettische und estnische Einheiten aus zahlreichen Freiwilligen und aus unfreiwillig Eingezogenen. Viele junge Männer flohen vor den Musterungen in die Wälder und bildeten dort einen dritten Machtfaktor zwischen deutschen Besatzern und sowjetischen Partisanen. Auch auf sowjetischer Seite kämpften mehrere zehntausend junge Esten, Letten und Litauer, die 1941 in die Rote Armee eingezogen worden waren. Meelis Maripuu, der Leiter des Zentrums für zeitgeschichtliche Forschung in Tallinn, unterstreicht, dass diese, bevor sie mit den Waffen in der Hand gegen die Deutschen kämpfen durften, ein Jahr in Lagern des Gulag-Systems verbringen mussten, wo ein Drittel der Rekruten starb.

Einheimische Kräfte hatten einen wesentlichen Anteil an der Ermordung der baltischen Juden. Vor allem die frühe Phase des Judenmordes in den baltischen Staaten war durch eine große Beteiligung litauischer, lettischer und estnischer Kollaborateure gekennzeichnet. Diese Phase begann in vielen Orten noch vor dem Einmarsch der Wehrmacht mit dem Mord an den jüdischen Nachbarn. Der Mythos von einer aktiven Partizipation von Juden an der sowjetischen Herrschaft im Baltikum war eine zentrale Begründung für die Morde. Insgesamt wurden mehr als 230 000 Jüdinnen und Juden im von Deutschland besetzten Baltikum ermordet.

Als die Rote Armee den größten Teil des Baltikums im Sommer und Herbst 1944 eroberte, flohen mit den deutschen Armeen Tausende estnischer, lettischer und litauischer Kollaborateure. Ein großer Teil der Häftlinge aus den Lagern der SS wurde nach Westen verschleppt. Tausende wurden vor dem Anrücken der Roten Armee erschossen. Als die sowjetischen Soldaten am 19. September 1944 das Lager Klooga in Estland befreiten, fanden sie brennende Scheiterhaufen mit halbverkohlten Leichen vor. Die SS hatte bei ihrem Abzug aus Klooga 2 400 Menschen ermordet.

Der Einmarsch der Roten Armee markierte den Beginn einer vollständigen Sowjetisierung des Baltikums und erneuter Deportationen. Nur einem Teil der Deportierten wurde Kollaboration mit den Deutschen vorgeworfen. Ein großer Teil der Bevölkerung nahm das Eintreffen der sowjetischen Truppen mit Schrecken auf. Vor allem in Litauen kam es zu bewaffnetem Widerstand gegen die sowjetischen Besatzer. Wer fühlte sich also befreit? Faina Kukliansky, Juristin der jüdischen Gemeinde in der litauischen Hauptstadt Vilnius, sagt, jüdischen Überlebenden sei es egal gewesen, wer sie befreite. Sie hätten ein noch so miserables Leben unter der sowjetischen Besatzung dem Tod unter den Deutschen vorgezogen. Doch weist sie darauf hin, dass die Mehrzahl der jüdischen Überlebenden meist unmittelbar nach der Befreiung in sowjetischen Gefängnissen verschwunden sei. Viele der nicht Verhafteten flohen über Polen in den Westen. Von denen, die von den Westalliierten befreit wurden, kehrte niemand in das Baltikum zurück.

Die sowjetische Politik führte zur Bildung zahlreicher Partisanengruppen, die begannen, sowjetische Einrichtungen anzugreifen. Diese »Waldbrüder« genannten Gruppen konnten sich auf die Unterstützung der Bevölkerung verlassen. Der Bürgerkrieg kostete Tausende Menschen auf beiden Seiten das Leben. Erst zu Beginn der fünfziger Jahre gelang es den sowjetischen Behörden, durch Unterwanderung, Repression und durch das Versprechen einer Landreform den Widerstand der Partisanen zu brechen. Als Reaktion auf den anhaltenden Widerstand wurden gleichsam als ein eingeübtes Druckmittel im März 1949 erneut Teile der baltischen Bevölkerung ins Innere der Sowjetunion verschleppt. Die Deportationswelle betraf etwa drei Prozent der gesamten Bevölkerung. Viele der Deportierten fanden in den sibirischen Verbannungsorten den Tod.

Nach Stalins Tod kam es auch in den baltischen Ländern zu einem spürbaren politischen Umschwung. Für einige der Deportierten bedeutete dies Rehabilitierung und die Möglichkeit zur Rückkehr in die baltischen Länder. In vielen Bereichen gelangten baltische Politiker in staatliche Stellen und ersetzten russische Kommunisten, die nach dem Krieg die wichtigsten Positionen eingenommen hatten. Forderungen nach verstärktem Gebrauch der Landessprachen und nach einer Begrenzung der russischen Zuwanderung wurden erhoben. Das Jahr 1959 bedeutete vor allem in Lettland eine Zäsur und erneute Repressionen.

1990 erhielten die baltischen Republiken die Unabhängigkeit und leiteten den endgültigen Zerfall der Sowjetunion ein. Die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga datiert deshalb das Kriegsende auf den 4. Mai 1990, den Tag, an dem das lettische Parlament die Unabhängigkeitserklärung ratifizierte. Ihrer Definition zufolge herrschte in den friedlichen sechziger, siebziger und achtziger Jahren, in denen sich auch viele Balten als Sowjetbürger verstanden, ein permanenter Kriegszustand.

Die Einladung zu den Gedenkfeiern nach Moskau brachte die baltischen Staatschefs in eine unangenehme Lage. Innenpolitisch wuchs der Druck, zu Hause zu bleiben. Außenpolitisch bestand die Gefahr, sich zu blamieren und bei der internationalen Feier des Sieges über den Nationalsozialismus abseits zu stehen. Die drei Staatschefs zierten sich. Sie machten ihr Erscheinen in Moskau von einer Entschuldigung Wladimir Putins für die stalinistischen Verbrechen an den Balten abhängig.

Da es zu keiner Einigung kam, sagte Lettlands Präsidentin schließlich ihre Teilnahme zu. Litauens und Estlands Präsidenten schickten eine Absage an Putin. »Wir sind keine siamesischen Drillinge«, sagte Vike-Freiberga. Der Dissens unter den baltischen Staaten diente den Interessen der drei Länder womöglich besser als eine gemeinsame Absage der Feier, denn er sicherte ihnen die Medienhoheit. Vike-Freiberga, die in Moskau an die »brutale Okkupation durch eine andere totalitäre Macht, die Sowjetunion«, zu erinnern versprach und an die Völkerrechtswidrigkeit der Besetzung der baltischen Länder erinnern wollte, kann mit großem Interesse an ihrem Auftritt rechnen.

Ginge es den baltischen Politikern ausschließlich darum, an die leidvollen Erfahrungen mit den sowjetischen Befreiern in ihren Ländern zu erinnern und von der russischen Regierung Worte der Entschuldigung zu erhalten, wäre das ein Anliegen, das Unterstützung verdiente.

Doch alle drei Staatsoberhäupter machten deutlich, dass es am 9. Mai nichts zu feiern gebe. Dass Bewohner des Baltikums verschiedener Nationalitäten den sowjetischen Truppen ihr Leben verdankten und dass diese das deutsche Morden auf baltischem Boden stoppten, ließen sie unerwähnt. Als einzige gedachte Lettlands Präsidentin in ihrer Erklärung der ermordeten Jüdinnen und Juden und nannte im gleichen Atemzug die »als Kanonenfutter missbrauchten« lettischen Männer in der Waffen-SS. An anderer Stelle kommentierte sie verächtlich das Gedenken in Russland an den Zweiten Weltkrieg: »Am 9. Mai werden die Russen sich an ihren geliebten Dörrfisch machen, Wodka trinken, ihre Tschastuschki (russische Spottlieder, d. Red.) grölen und sich erinnern, wie heldenhaft sie das Baltikum eroberten.« Als sei die Eroberung Rigas und nicht Berlins das oberste sowjetische Kriegsziel gewesen.

Bei vielen Gelegenheiten betrieben die baltischen Eliten in den vergangenen Jahren eine systematische Gleichsetzung von Nationalsozialismus und sowjetischem System. So nannte die lettische Außenministerin, Sandra Kalniete, in ihrer Eröffnungsrede zur Leipziger Buchmesse 2004 den Nazismus und den Kommunismus gleichermaßen kriminell. Baltische Europa-Abgeordnete schlugen dem Justizkommissar vor, das Verbot nationalsozialistischer Symbole auf kommunistische auszuweiten. Estlands Präsident Arnold Rüütel schrieb zur Begründung der Absage seiner Teilnahme an der Jubiläumsfeier, man müsse alles tun, damit sich Holocaust und »Holodomor« – der sowjetische »Hungermord« an der ukrainischen Landbevölkerung in den dreißiger Jahren – nie wiederholten, und setzte so in seiner bildhaften Sprache stalinistische Verbrechen mit dem deutschen Massenmord an den Juden gleich. Das Bild der beiden totalitären Riesen Hitler und Stalin, zwischen denen die baltischen Staaten zermahlen werden, ist attraktiv, da es die Frage nach der baltischen Partizipation unter den jeweiligen Herren als zweitrangig erscheinen lässt.

Doch gilt weithin die sowjetische Herrschaft als die eigentlich brutalere. Durch die Zuwanderung und Ansiedlung slawischer Sowjetbürger nach dem Krieg sahen viele die baltischen Republiken in ihrem nationalen Bestand bedroht. Doch die ethnonationalistische Wahrnehmung des Leids der baltischen Bevölkerungsmehrheit schließt die jüdischen und nichtbaltischen Opfer aus der nationalen Erinnerung aus. Den baltischen Milizen und Verbänden der Waffen-SS hingegen kommt die Rolle von Freiheitskämpfern gegen die Sowjets und für die staatliche Unabhängigkeit zu. In allen drei Republiken gab es Fälle, bei denen hohe staatliche Repräsentanten an Ehrungen für Mitglieder der Waffen-SS oder anderer kollaborierender Verbände teilnahmen. Proteste blieben meist nur den Repräsentanten jüdischer Verbände vorbehalten. Doch als in der Hafenstadt Pärnu Veteranenverbände die estnischen Mitglieder der Waffen-SS mit einem Denkmal ehrten, das einen estnischen Soldaten in SS-Uniform mit Sturmgewehr zeigt, schritt die Regierung ein und ließ das Denkmal abbauen. Dessen Inschrift lautete: »Für alle estnischen Soldaten, die im Zweiten Freiheitskrieg für ihr Vaterland und ein freies Europa zwischen 1940 und 1945 gefallen sind.«

Auch in Polen war die Einladung nach Moskau politisch umstritten. Politiker mehrerer Oppositionsparteien forderten, Staatspräsident Alexander Kwasniewski und Premierminister Marek Belka sollten ihre Teilnahme an den Moskauer Feierlichkeiten absagen. Zugleich unternahmen konservative polnische Abgeordnete des Europa-Parlaments eine geschichtspolitische Initiative und forderten, die Europäische Union müsse sich eine neue »Sichtweise auf die Geschichte« zu eigen machen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges sei »der Anfang einer neuen Versklavung in Mittel- und Osteuropa«. Auch dass der ehemalige polnische Machthaber General Wojciech Jaruzelski, der 1981 das Kriegsrecht in Polen ausgerufen hatte, nach Moskau geladen wurde, ist für viele Polen ein Affront. Doch Kwasniewski verteidigte dessen Teilnahme offensiv. »Wir feiern in Moskau den Sieg über den Faschismus. Und man muss anerkennen, dass die Russen einen großen Anteil an diesem Sieg haben, dass sie Millionen Opfer gebracht haben. Sie haben ein Recht darauf, dass die Welt dieser Opfer im positiven Sinne gedenkt.«

Die Absage, die am meisten überraschte, kam aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Denn zunächst war Viktor Juschtschenko nach seiner Wahl zum Präsidenten um eine Verbesserung des Verhältnisses zu Russland bemüht und unternahm seine erste Auslandsreise im Januar nach Moskau. Der 9. Mai ist in der Ukraine ein Feiertag, der vielen Menschen am Herzen liegt und mit ähnlichem Aufwand wie in Russland zelebriert wird.

Juschtschenko kritisierte denn auch nicht die geschichtspolitische Bedeutung des 9. Mai, sondern erklärte, er wolle in Kiew bleiben, um an diesem Tag mit den ukrainischen Veteranen den 60. Jahrestag des Sieges über den Nationalsozialismus zu feiern. Der Affront gegenüber Russland ist dennoch offensichtlich und wird dort als der mögliche Versuch einer härteren Gangart gegenüber dem eigenen Land angesehen.

Die Erkenntnis, dass es innerhalb der Europäischen Union keine einheitlichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg gibt und das europäische Geschichtsverständnis an zentralen Punkten auseinanderklafft, wurde in den deutschen Medien aufmerksam registriert. Doch die Konflikte in den mittelosteuropäischen Ländern resultieren vor allem aus der Aufgeregtheit neu-europäischer EU-Parlamentarier und antikommunistischer Politiker. Ein Blick nach Tallinn, Riga und Vilnius ergibt ein ruhigeres Bild. Die Frage um die Fahrt nach Moskau wurde im Alltag der Bevölkerung wenig diskutiert. Die estnische Mehrheit und die russische Minderheit würden durch die Frage nach der Reise nach Moskau nicht entzweit, sagt der Historiker Maripuu. Und so kommt es auch dieses Jahr zu den traditionellen Befreiungsfeierlichkeiten in Narva, Estlands größter russischsprachiger Stadt. Angriffe auf die Gedenkfeier seien nicht zu erwarten, sagt Maripuu.