Stadt ohne Gott

Die Mehrheit der Berliner hat nichts gegen einen künftigen »Werteunterricht«. Umso erstaunlicher ist die Debatte darum. von doris akrap

Berlin ist keine gottlose Stadt.« Das verkündete in der vorigen Woche der Landesbischof von Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, Wolfgang Huber, in einem offenen Brief an den Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit. Glaubt er etwa tatsächlich, was er schreibt, oder hat er schlichtweg gelogen? Bisher jedenfalls sagte man doch, kein Gott habe je einen Fuß in diese Stadt gesetzt. Oder haben Sie schon mal etwas von einem Berliner Schutzpatron gehört?

Die Suche nach einer stinknormalen Kirche, in der man sonntagmorgens der heiligen Messe beiwohnen kann, gestaltet sich ebenso schwierig wie die Suche nach einer Nachtapotheke. Ein Zettel in einem Schaukasten verrät, dass die einzige Serviceeinrichtung mit dem vom Kunden gewünschten Angebot in Marzahn-Hellersdorf oder im Märkischen Viertel liegt und dass diese Angabe ohne Gewähr ist. Das religiöse Leben der Christen in Berlin gleicht dem ehemals für die Stadt charakteristischsten Raum: der Brache.

Unter dem Motto: »Offen für Gott und die Welt« fördert Huber, zugleich Ratsvorsitzender der EKD, persönlich alternative Nutzungskonzepte für die Berliner Kirchen: Raver rund um den Altar, zu Schwitzbädern ausgebaute Sakristeien und Informationsveranstaltungen zum »Widerstand« in Hebron im Mittelschiff des Doms. Auch wenn sich das nach pubertären Phantasien jener anhört, die mit der Kirche im Dorf geblieben sind, für christliche Gottesverweigerer hat Berlin nach wie vor den Status, den es einmal für Kriegsdienstverweigerer hatte. Bereits seit 1945 ist das Schulfach Religion ein freiwilliges Sonderangebot. Über welche Fähigkeit, die Menschen zu bewegen, die Kirchen dennoch verfügen, ist seit zwei Wochen zu spüren. Da staunen die Ungläubigen nicht schlecht.

Grund des christlichen Aufruhrs ist die am 9. April getroffene Entscheidung des Berliner Landesverbands der SPD, im nächsten Schuljahr Lebenskunde/Ethik/Religionskunde (LER) von der siebten Klasse an als Pflichtfach einzuführen. Der so genannte Werteunterricht könnte nicht mehr zu Gunsten des Religionsunterrichts abgewählt werden. Religionsunterricht bliebe ein freiwilliges Angebot, getragen von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Wer es wahrnimmt, hätte dann mehr Schulstunden als die anderen.

Diese Entscheidung löste in den Parteien und Medien eine Entrüstung aus, die es bis in die »Aktuelle Stunde« des Bundestages schaffte. In apokalyptischer Hysterie wurde auf die vermeintlichen Antichristen geschimpft. Die Kritiker der Berliner SPD warfen ihr nicht nur den »Rückfall hinter Godesberg« und »seelenlose Religionskunde« vor. Der »Kommunismus« oder gar der »Nationalsozialismus« wurden am Horizont der Mark Brandenburg gesichtet, da ja der Staat zukünftig wieder die Sinnfragen bestimme. Jede der beiden Seiten reklamierte für sich die zur »Wertevermittlung« notwendige »Wertekompetenz« sowie die »authentische Darstellungsmöglichkeit« von Glaubens- bzw. Weltanschauungsgrundlagen und unterstellte der jeweils anderen »Wertedefizite«. Während katholische Werteverteidiger von der CDU mit einer Verfassungsklage gegen den staatlich organisierten Werteunterricht drohten, warnte der ostdeutsch-christliche Teil der SPD im Chor mit den Religionsgemeinschaften der Stadt vor einem »staatlich verordneten Werte-Unterricht«, sammelte Unterschriften von christlichen Prominenten wie Joachim Gauck und Günter Jauch und rief die »Woche des Widerstands« aus.

Wie es sich für einen Streit mit Ketzern und Häretikern gehört, vertreten die vermeintlich Abtrünnigen nur unwesentlich andere Positionen. Sie wollen den Wertekanon zukünftig alleine predigen und die Kirche nur noch als kulturelle Zugabe singen lassen. Bei alledem wurde vergessen, den Inhalt der »Werte« zu bestimmen: Viel mehr als die von der PDS benannte »interkulturelle Dialogfähigkeit als Schlüsselkompetenz in der globalisierten Welt« war dem Gezänk nicht zu entnehmen.

Sicherlich ist einer der Gründe für die Provinzposse die hochgradig verdichtete christliche Aura der letzten Wochen, in deren Kontext das Damaskuserlebnis Gerhard Schröders einzuordnen ist. Er, der es als erster deutscher Bundeskanzler abgelehnt hatte, den Verfassungseid auf Gott zu schwören, sprach sich gegen die eindeutige Entscheidung der Mehrheit seiner eigenen Genossen aus und favorisiert das Wahlpflichtmodell des Berliner Schulsenators Klaus Böger. Der hatte dafür plädiert, LER als alternatives Angebot zum Religionsunterricht einzurichten, mit dem Argument, der Religionsunterricht werde sonst in die Privatsphäre abgedrängt und ein Verlust staatlicher Kontrolle über den Lehrinhalt der Religionsgemeinschaften sei die Folge.

Hintergrund der Bedenken sind »zweifelhafte Anbieter von Wert- und Lebensorientierung« – so formuliert in einem offenen Brief mehrerer SPD-Politiker an die Berliner Landesparteitagsdelegierten –, zu denen auch die unter Verdacht des Islamismus stehende Islamische Föderation zählt, die an Berliner Grundschulen Islamunterricht anbietet. Verschärft hatte sich die Debatte vor allem durch den mutmaßlichen »Ehrenmord« an der Berlinerin Hatun Sürücü. Gefordert wurde, die bislang vermeintlich gescheiterte Aufklärung der Migranten über den Wert des Lebens durch strenger säkulare Erziehungsmaßnahmen zu bewirken. Bereits Anfang des Jahres hatte Berlin als einziges Bundesland das »Kopftuchurteil« auf alle öffentlichen Einrichtungen ausgeweitet und dort religiöse Symbole verboten. Auch anlässlich der Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft öffentlichen Rechts fordern beispielsweise die Berliner Grünen und die Republikaner die Abschaffung des Religionsunterrichts.

Angesichts der großen laizistischen Einigkeit hätte man nicht erwarten können, dass die Entscheidung für ein staatlich vermitteltes Werteprogramm derartige inszenierte Dramen auslösen würde. Schließlich befürworten zwei Drittel aller Berliner einer Emnid-Umfrage zufolge den so genannten verpflichtenden Werteunterricht, und über die Hälfte aller Deutschen sind dem ZDF-Bildungsbarometer zufolge für Freistunden statt Religionsunterricht und hätten nichts dagegen, letztgenannten ganz zu streichen. Wo bleibt also der Blick aufs Wählerpotenzial?

Allein Schröders Allianz mit der evangelischen Kirche ist verständlich und wohl auch jenseits religiöser Fragen zu suchen: Erst im Februar hatte Bischof Huber verkündet, dass die Hartz IV-Reformen nötig seien, denn die Massenarbeitslosigkeit sei »aus ethischer Sicht unerträglich« geworden.