Billy the Horse

Die Brücke zum neuen Wembley-Stadion wird nach einem Pferd benannt. Aber nicht nach irgendeinem. von elke wittich

Eine beliebte britische Fußballscherzfrage lautet: »Wie viele Polizieikräfte benötigt man, um eine entschlossene Menge von 200 000 britischen Fußballfans zu kontrollieren?« Die Antwort ist ebenso einfach wie legendär: »Einen, plus ein Pferd namens Billy.«

Billy ist schließlich das bekannteste Polizeipferd Großbritanniens. Und mittlerweile auch der fußballinteressierten Welt, denn Billy gewann gerade erst eine richtige Volksabstimmung. In der ging es um die Frage, nach wem die zum neuen Wembley-Stadion führende Fußgängerbrücke benannt werden solle. Zur Abstimmung standen unter anderem diejenigen, die für den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1966 verantwortlich waren, Sir Bobby Charlton, Sir Geoff Hurst und Sir Alf Ramsey. Billy schlug sie jedoch alle, und nun heißt die Brücke »White Horse Bridge«.

Darüber, was Billy am 23. April 1923 gedacht haben könnte, wenn er zweibeinig und des Denkens mächtig gewesen wäre, kann nur spekuliert werden. Allerdings nicht sehr ausgiebig, denn im Grunde sind seine Gedankengänge klar: »Meine Güte, was für Idioten«, »Och nö, warum eigentlich immer ich?« und »Okay, Wenig-Füßler, zieht euch warm an, denn jetzt komme ich!« dürften sie gelautet haben. Als Polizeipferd war Billy wohl ziemlich gut an menschliche Andersbegabungen gewöhnt, aber was der Schimmel und sein Reiter, der Constable George Scorey, am 23. April 1923 erlebten, sollte beispiellos bleiben.

An diesem Sonntag sollte eigentlich das britische Cup Final zwischen den Bolton Wanderers und West Ham angepfiffen werden. Sollte, denn vier Tage, nachdem das innerhalb von 300 Arbeitstagen erbaute neue Wembley-Stadion offiziell fertiggestellt wurde, gab es bereits den ersten Skandal. 126 047 Eintrittskarten waren offiziell in den freien Verkauf gelangt, aus bis heute ungeklärten Gründen schafften es jedoch 70 000 Zuschauer mehr in das neue Stadion – die meisten hievten einander wohl über die Stadionmauern, übersprangen die Drehkreuze oder kletterten über die Absperrgitter.

Damit dürften die Verantwortlichen ganz sicher nicht gerechnet haben, denn zum an der Stamford Bridge ausgetragenen Pokalfinale im Jahr davor waren 53 000 Fans erschienen. Dabei hätte man sich durchaus denken können, dass diesmal mehr Menschen anwesend sein würden: König George V. hatte sein Erscheinen angekündigt, der Cup galt mittlerweile als wichtigstes nationales Sportereignis, und mit West Ham war ein Londoner Club im Finale vertreten. Nun schubste und drängelte man sich ins Wembley-Stadion. Eigentlich sollte der Anstoß um drei Uhr nachmittags sein, aber bereits um Viertel vor zwei wurden die Stadiontore ge- und die Zuschauer damit eingeschlossen. 900 Menschen wurden in dem Gedränge verletzt, allerdings niemand schwer.

König George V. dürfte geahnt haben, dass irgendetwas nicht stimmte, denn als er in seiner Loge Platz nahm, hatten die Zuschauer bereits drei Viertel des Spielfeldes in Beschlag genommen. Gegen zwei Uhr waren die Polizeistationen der weiteren Umgebung alarmiert worden, aber als die Beamten schließlich am Stadion eintrafen, gab es nichts, was sie tun konnten. Die Einsatzleitung entschied schließlich, dass die Spielfläche mit einer Pferdestärke geräumt werden solle. Die Wahl fiel auf Billy und George Scorey. Billy war nicht das einzige Polizeipferd vor dem Wembley-Stadion, aber es war der einzige Schimmel.

Inwieweit es bei der Einsatzzplanung eine Rolle spielte, dass sich ein weißes Pferd gut sichtbar gegen die dunkel gekleidete Masse abheben werde, läßt sich heute nicht mehr herausfinden. Klar ist jedoch, was der Polizeireiter zunächst von diesem Einsatz hielt: »Während sich mein Pferd den Weg durch die Menge bahnte, sah ich nichts als ein Meer von Köpfen. Und ich dachte: ›Das schaffen wir nicht!‹«

Obwohl er so skeptisch war, begann Scorey damit, vom Anstoßkreis aus immer größere Zirkel zu reiten und die Massen so zurückzudrängen, wie er später in einem Interview mit der BBC erzählte. »Einige der Zuschauer wurden bockig, und ich fragte sie dann: ›Wollt ihr das Spiel wirklich nicht anschauen?‹ Und antwortete ihnen: ›Seht ihr, ich auch.‹ Und dann traten sie wirklich zurück.« Einer dieser Fans erzählte im selben BBC-Feature, dass die Situation höchst bedrohlich gewesen sei: »Ich hatte eine echte Scheißangst!«

Nach 45 Minuten war es schließlich so weit, Billy und Scorey hatten die Spielfläche freigeräumt, ohne dass es zur befürchteten Massenpanik gekommen wäre. Kaum war das Finale angepfiffen, zeigte sich allerdings, dass nahe am Geschehen zu stehen, durchaus mit einigen Risiken verbunden war. Ein Schuss des Boltoner David Jack traf einen hinter dem Tor stehenden Zuschauer so hart, dass dieser umkippte und wie ein Dominostein die anderen dicht gedrängt stehenden Fans mitriss.

Eben dieser David Jack brachte Bolton schließlich mit 1:0 in Führung. Vorangegangen war eine sehr kontrovers beurteilte Situation: Vor dem Treffer hatte der rechte Verteidiger Jack Tresadern einen Einwurf, was ein unbedingter Nachteil war. Denn der Kicker wurde anschließend von der Menschenmasse eingeschlossen und schaffte es einfach nicht, rechtzeitig zum folgenden gegnerischen Angriff auf seine Position zurückzukommen.

Auch der zweite Treffer sorgte für Diskussionen. Ein Bolton-Fan habe den irrtümlich nicht Aus gegebenen Ball zurück auf das Spielfeld und dem Kicker Ted Vizard genau vor die Beine geschossen, heißt es. Schiedsrichter David Asson zeigte jedoch völlig unbeeindruckt auf den Anstoßkreis. George Kav von West Ham bat den Referee daraufhin, das Spiel abzubrechen – der Kapitän der Boltoner rief jedoch: »Es klappt doch alles so weit gut, wir spielen notfalls, bis es dunkel wird!« Schiedsrichter Asson schloss sich dieser Sicht der Dinge an. Bolton gewann 2:0, in einer Begegnung, die ohne Billy nicht nur unangepfiffen hätte bleiben müssen, sondern auch Todesopfer hätte fordern können.

Diszipliniertes Verhalten war Fußballfans damals schließlich völlig unbekannt, wie John Williams, Director des Sir Norman Chester Centre für Fußballforschung an der Universität von Leicester erklärt. »In den ersten Jahren war es eine ziemlich riskante Sache, als Zuschauer zu einem Fußballspiel zu gehen – speziell Ende des 19. Jahrhunderts bis einige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.« Fußballfans »waren es einfach nicht gewohnt, reglementiert und kontrolliert zu werden. Ihre Verhaltensstandards unterschieden sich sehr von denen, die heutzutage von den Stadioninhabern verlangt werden.« Damals sei es absolut normal gewesen, betrunken zu einem Spiel zu erscheinen und während des Matches herumzupöbeln oder sich mit anderen Fans zu prügeln. »Manche Quellen berichten, dass Leute Waffen mit ins Stadion nahmen oder Flaschen als Schlagwerkzeuge einsetzten. Niederlagen wollten sie nicht einfach so hinnehmen, manchmal attackierten sie den Schiedsrichter – und hin und wieder auch die Spieler.«

Selbst in der Zeit von 1950 bis 1960, die heute so wirkt, als seien »die Jugendlichen gut erzogen gewesen und dass sie allesamt alten Frauen über die Straße halfen und großen Respekt vor dem Schutzmann an der Ecke hatten«, kam es Williams zufolge zu Gewaltexzessen. Regelmäßig wurden so die Züge, mit denen die Fans vom Stadion transportiert wurden, verwüstet. Dass es nicht bereits 1923 zu Szenen wie im Heyssel-Stadion kam, ist allein Billy zu verdanken. Der Schimmel überlebte den ersten Pokalfight in Wembley übrigens um sieben Jahre. Als das Polizeipferd 1930 starb, überreichte der damalige Polizeipräsident dem Constable George Scorey eines seiner Hufeisen, das vorher vergoldet worden war. Was Billy darüber gedacht haben würde, kann man nur ahnen.