»López Obrador ist kein Linker«

Marco Rascón

Über eine Million Menschen demonstrierte im April in Mexiko-Stadt für den Bürgermeister Andrés Manuel López Obrador. Der gemäßigte linke Politiker sollte aus dem Amt entfernt werden, weil er widerrechtlich einen Zufahrtsweg bauen ließ. Er überstand die Affäre und gilt bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr als aussichtsreichster Kandidat.

Wird dann in Mexiko wie in anderen lateinamerikanischen Staaten ein linker Präsident für frischen Wind sorgen? Mit Marco Rascón, einem Kommentator der Tageszeitung La Jornada, sprach Wolf-Dieter Vogel.

Mehrere Monate lang haben Gewerkschafter, Bauern und Stadtteilaktivisten erfolgreich gegen die Amtsenthebung des Bürgermeisters López Obrador gekämpft. Ist damit tatsächlich eine Verschwörung der Neoliberalen und der alten Staatspartei Pri gescheitert, wie López Obrador selbst meint?

Ich denke nicht, dass es jemals ein Komplott gab. Dieses Verfahren war keine Sache der Rechten, also der Regierung von Vicente Fox. Letztlich profitierte vor allem López Obrador selbst davon. Immerhin wurde er durch die Kampagne zum aussichtsreichsten Kandidaten. Obwohl es nicht um einen linken Inhalt ging, wollten die Leute mit Blick auf die 70jährige Einparteienherrschaft des Pri verhindern, dass die Kandidatur eines vermeintlich Linken vorab unmöglich gemacht wird. Auch wenn es ihnen darum ging, das Recht auf freie Wahlen zu verteidigen, haben sie im Grunde das exklusive Recht der politischen Klasse auf ihre verfassungsrechtlich geschützte Immunität verteidigt. Dieses Recht hat bislang dafür gesorgt, dass korrupte Politiker Straflosigkeit genossen.

Sie waren von Anfang an López Obradors Partei der Demokratischen Revolution (PRD) beteiligt, die sich Ende der achtziger Jahre aus sozialen Bewegungen entwickelt hat. Heute setzen Sie die Partei mit den übrigen gleich.

Wenige Tage nach der Einstellung des Verfahrens sagte López Obrador der New York Times, dass er sich als Mann der Mitte betrachte. Er gehörte früher selbst dem Pri an und hat den dieser Partei eigenen Autoritarismus übernommen. Von einer innerparteilichen Demokratie kann keine Rede sein. Die Polarisierung vom Frühjahr hat er dazu benutzt, um ihm genehme Leute an die entscheidenden Stellen zu befördern.

Viele unserer alten Feinde aus dem Pri wollen uns nun als PRD-Politiker sagen, wo es lang geht. Da man den PRD von außen nicht zerstören konnte, wurde er innen angegriffen. Während in den ersten Jahren über 600 seiner Aktivisten umgebracht wurden, sitzt heute der halbe Pri im PRD. Es gibt keinen wirklichen Unterschied mehr.

Der PRD hält dagegen, dass López Obrador eine kleine Grundrente für alle Alten in Mexiko geschaffen, allein erziehende Frauen unterstützt und Hilfsprojekte für Behinderte eingeführt habe. Beachtenswert in einer Metropole, in der über die Hälfte unterhalb der Armutsgrenze lebt.

Bei diesen Maßnamen handelt es sich um eine Neuauflage des alten Klientelismus des Pri in den Zeiten des Neoliberalismus. Die 400 000 US-Dollar zur Unterstützung der Stadtverwaltung gehen zu 85 Prozent direkt an die US-amerikanische Walmart-Gruppe und zu 15 Prozent an zwei mexikanische Unternehmen. Die Leute bekommen eine Art Kreditkarte, die nur in diesen großen Einkaufszentren funktioniert. So ruiniert man alle kleinen Geschäftsleute und fördert nicht die eigene Wirtschaft. López Obrador schenkt auch allen Schülern die notwendigen Utensilien, und alle sind begeistert. Aber das gesamte Geld geht an den Konzern Gigante, bei dem man die Sachen kaufen muss. Für die Schreibwarenläden in den Barrios ist das ein schwerer Schlag.

Dennoch konnte er über eine Million Menschen mobilisieren …

Letztlich geht es darum, die eigenständige Organisation der Menschen zu verhindern. Nachdem das Verfahren zur Amtsenthebung eingestellt worden war, sagte man den Leuten: »Geht nach Hause!« Als mediale Inszenierung lassen sich große Menschenmengen auf die Straßen bringen, aber zugleich ist die reale Mobilisierungskraft extrem gesunken. Früher hatten wir eine Bewegung der Freien Radios, Basisorganisationen in den Barrios, starke oppositionelle Gewerkschaften. Wir waren ohne Zutun von oben handlungsfähig. Heute ist alles ziemlich ausgetrocknet und wird vom PRD überschwemmt.

Die gleiche Kritik an der Partei kommt von den Zapatisten. Sie setzen auf ein breit gefächertes Bündnis jenseits des wahlpolitischen Spektakels. Damit schwäche man die Linke, sagen Kritiker und verweisen auf die Entwicklung in Brasilien oder Uruguay, wo gemäßigte linke Politiker in der Regierung sitzen.

Für Brasilien und anderswo würde ich sagen, dass die Erfahrungen der Linken der letzten Jahrzehnte tatsächlich die Realpolitik beeinflusst haben. Aber López Obrador ist kein Linker. Sein Zwanzig-Punkte-Programm verbindet den alten autoritären Klientelismus mit einer Unterordnung unter die nordamerikanischen Interessen, während Lateinamerika für ihn keine Rolle spielt.

Hingegen ist Lula da Silvas Arbeiterpartei immer noch an Bewegungen angebunden, etwa an die Landlosen. Trotz Lula hat in Brasilien eine kritische linke Position an Stärke gewonnen. Dort ist klar: Wenn man darauf wartet, dass Lula die Frage der Landverteilung löst, wird nichts passieren.

In Mexiko aber sind soziale Bewegungen dem PRD untergeordnet und bilden kein Gegengewicht zur Partei. Seit sie im Jahr 1997 die Macht in Mexiko-Stadt übernommen hat, betreibt sie eine Art Demobilisierung. Sie will nicht, dass sich außerhalb der Partei etwas bewegt. So impliziert ihre Parole »Mexiko-Stadt – die Stadt der Hoffnung«, dass du darauf wartest, dass jemand deine Probleme löst. Das ist religiös. Die Botschaft lautet: Die kämpferische Phase ist beendet. Es gibt keine ideologischen Hindernisse mehr. Es geht nur noch um Pragmatismus. Und anders als Fox kontrolliert der PRD die Armen. Zugleich fehlt es an Konzepten für eine Kritik von unten.

Umfragen sehen im Pri den stärksten Konkurrenten von López Obrador. In jüngster Zeit konnte der Pri in einigen regionalen Wahlen wichtige Erfolge erzielen.

Da die Politik den wirtschaftlichen Regeln untergeordnet ist, lautet das große Problem, das auch in den USA existiert: Wie legitimieren wir diese ökonomische Ordnung? Immer weniger Leute gehen überhaupt noch wählen. So gesehen ist López Obrador eine Option, um die Leute mit einer simulierten kämpferischen Wahl für das parlamentarische System zu gewinnen.

Aber warum genießt er dann so viele Sympathien?

Wir haben aus Generationsgründen eine komplizierte Situation. Ein großer Teil der linken Strukturen ist heute auf Geld von der Regierung oder der Partei angewiesen. Aktivisten, die heute 50 Jahre oder älter sind, leben erstmals in einer ökonomisch stabilen Situation, also unterschreiben sie alles. Es ist folglich auch ein soziales Problem. Sie unterschreiben, was die Kontinuität der Zahlungen garantiert. Sie kommen aus einer fürchterlichen Vergangenheit und wollen nicht zurück in den alten Aktivismus, sondern Sicherheit. Und López Obrador hat einiges dazu beigetragen.