A Star is Born

Der Brite Charlie Adie wollte in Tallinn eigentlich nur in Ruhe trinken. Einen Tag später stand er im Rugby-Auswahlteam Estlands. von elke wittich

Tagträume männlicher Sportfans dürften ungefähr so aussehen: Man sitzt auf der Tribüne und schaut dem Lieblingsteam wie gewohnt beim Verlieren zu. Plötzlich erscheint der Vereinspräsident und erklärt, man habe im kleinen Kreis beraten und nun eine sehr, sehr große Bitte. So gehe das nicht weiter, ein Sieg müsse unbedingt her, und deswegen sei es nett, wenn der Fan sich auf der Stelle umziehen und mitspielen würde.

Die meisten dieser Tagträume enden, so ist es zu vermuten, mit einem Triumph. Denn natürlich ist es dem Träumer gelungen, das alles entscheidende Tor zu erzielen und damit den Verein vor dem Abstieg zu retten oder vielleicht auch, je nach Ehrgeiz des Akteurs, die Meisterschaft klarzumachen. Um dann jedoch umgehend aufzuwachen und festzustellen, dass das geliebte Dream Team leider immer noch ziemlich mies ist und man selber, nach ungefähr 10 000 Frustbieren und -bratwürsten, realistisch gesehen, bei einem Einsatz die Lage des Vereins eher noch verschlimmern würde.

Ob der Brite Charlie Adie jemals sportliche Tagträume gehabt hat, ist leider nicht bekannt. Falls ja, dann gingen sie für ihn jedoch am 17. Juli dieses Jahres in Erfüllung. Jedenfalls partiell. Und in Tallinn.

Eigentlich wollte er in der estnischen Hauptstadt nur seinen Abschied vom Junggesellendasein feiern, denn für Anfang August ist die Hochzeit mit seiner Freundin Nicola geplant. Gemeinsam mit den mitgereisten 16 Freunden saß er am Abend des 16. Juli gemütlich in einer Bar und trank Bier, viel Bier, um genau zu sein, als plötzlich ein durchtrainierter estnischer Mann an die Gruppe herantrat. Man unterhielt sich, und irgendwann kam die Rede auf Sportarten, die man betrieben hatte.

Der 32jährige Adie erwähnte dabei, dass er lange in der York Wasps Rugby-Liga gespielt habe, jedoch in den letzten drei Jahren berufsbedingt kein einziges Mal aktiv gewesen sei. Zudem war sein Vertrag als stellvertretender Manager des Vereins York City Ende Mai 2003 von der Teamleitung nicht verlängert worden. Nicht etwa, weil man mit der bisher geleisteten Arbeit nicht zufrieden war – York hatte einfach nicht genug Geld, um die Aufwandsentschädigung weiter zu zahlen, und entschied sich daher »schweren Herzens«, auf Adies Dienste zu verzichten.

Was den Esten plötzlich sehr hellhörig machte. Er sei Mitglied des Rugbyteams seines Landes, erklärte er plötzlich und fragte, ob der britische Informatiker es sich nicht vielleicht vorstellen könne, am nächsten Tag im Rahmen des Baltic Rugby Cups gegen Finnland anzutreten.

Vielleicht war Adie beflügelt vom vorausgegangenen Alkoholgenuss, vielleicht aber auch nur von der Aussicht, endlich mal wieder in seiner Lieblingssportart aktiv werden zu können, abschließend wird das wohl nicht mehr zu klären sein. Denn der Brite hat nur noch sehr rudimentäre Erinnerungen an die Stunden vor dem Spiel, wie er später seiner Heimatzeitung, der Yorkshire Evening Press, erzählen sollte. An sein Ja-Wort gegenüber dem estnischen Rugbyspieler erinnerte er sich jedoch noch ziemlich gut.

Nach dem Aufstehen ging er trotz schweren Katers dann auch sehr umsichtig und planmäßig vor: Weil es ihm an der geeigneten Ausrüstung fehlte, ließ er sich vom Hotelpersonal den Weg ins nächste Sportfachgeschäft weisen und kaufte sich dort Rugby-Schuhe, die Trikots, so war ausgemacht worden, würden vom Verband gestellt. Derart ausgerüstet, schnappte er sich seinen Bruder und potenziellen Trauzeugen, Ed, der in früheren Tagen auch aktiver Rugbyspieler gewesen war, und gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg.

Leider nicht on the road to success: Estland unterlag dem finnischen Auswahlteam verhältnismäßig deutlich mit 32:42.

Was aber nicht weiter verwunderlich war: Rugby ist in dem baltischen Staat eine noch weitgehend unbekannte Sportart. Der Verband Eesti Ragbi Föderatsioon wurde im Jahr 1997 gegründet, das ausgewiesene Hauptziel ist es derzeit weniger, eine erfolgreiche Nationalmannschaft zu formen, sondern das Werfen des eiförmigen Balls wenigstens ein bisschen populär zu machen. Dazu sollten langfristig in allen großen Städten des Landes Vereine installiert werden, außerdem bietet man Schulen Unterstützung beim Einrichten von Rugby-AGs an. Kontakte zu Teams in Süd- und Nordeuropa sollen zudem dafür sorgen, dass die Spieler und Spielerinnen internationale Erfahrung sammeln und vor allem Auslandsreisen unternehmen können. Dazu gibt es Wettkämpfe zwischen estnischen und norwegischen Schulmannschaften, Schnee-und Beach-Rugby und Frauen-Cups. Rund um das Spielgelände wurden zudem Kameras installiert, die den Trainern erlauben sollen, die Übungseinheiten später in Ruhe aufzuarbeiten.

Der Höhepunkt sollte jedoch das Match gegen das finnische Team werden. Die klare Niederlage schmerzte die Verantwortlichen dabei jedoch kaum. Und auch Adie dürfte ziemlich glücklich gewesen sein, schließlich wurde er, der vier Strafstöße verwandelt hatte, nach dem Spielende zum »Player of the match« gewählt und reich mit Souvenirs beschenkt. Außerdem wurde er gezwungen, einige ziemlich große Gläser Wodka herunterzustürzen, was, so wurde ihm von den Verantwortlichen erklärt, nach dem Abpfiff eine sehr liebgewonnene estnische Rugby-Tradition sei, die auch von verkaterten Briten keinesfalls außer Kraft gesetzt werden dürfe.

Er habe einen wirklich äußerst lustigen Tag erlebt, erklärte Adie später seiner Heimatzeitung. Zum einen sei es sehr schön gewesen, wieder einmal Rugby zu spielen, »auch wenn das Niveau nicht wirklich hoch war«. Auch wenn es sich um das estnische Auswahlteam gehandelt habe, müsse man doch konstatieren, dass die Jungs nicht so wirklich viel könnten, was jedoch auch kein Wunder sei: »Da drüben ist Rugby eine ausgesprochene Nischensportart. Und die Leute sind sehr arm, da kann man nicht erwarten, dass sie aus dem Nichts perfekte Trainingsbedingungen schaffen.«

Und darauf komme es ja auch schließlich überhaupt nicht an: »Ich habe in Tallinn den schönsten und stolzesten Moment meiner sportlichen Laufbahn erlebt. Wir wurden von den Zuschauern wirklich frenetisch angefeuert, das hat Spaß gemacht, obwohl ich wirklich extrem müde und erschöpft war.«

Wenn es nach Charlie Adie geht, wird man sich auch bald wiedersehen: »Die Arbeit der Verantwortlichen hat mir sehr imponiert. Und deswegen habe ich angeboten, wenn sie es möchten, beim Aufbau der Sportart dort zu helfen und meine Erfahrungen weiterzuvermitteln. Das würde ich wirklich sehr gerne tun. Natürlich kostenlos.«

Schließlich werde der estnische Rugbysport auch positive Auswirkungen auf Charlie Adies Hochzeit haben, wie er in einem Interview sagte: »Mein Bruder hat bis zu diesem Tag immer darüber gestöhnt, wie schwierig es sei, die traditionelle Rede des Trauzeugen über den Bräutigam zu schreiben. Nun, das hat sich nach diesem unglaublichen Wochenende ja wohl gründlich geändert, das dürfte eine ziemlich perfekte Rede werden!«

Die Verpflichtung des britischen Brüderpaars sollte sich für die Eesti Ragbi Föderatsioon zudem als PR-Glücksgriff erweisen. Die Geschichte von dem Mann, der als wild entschlossener Trinker in eine Tallinner Bar ging und als Spieler wieder herauskam, machte nämlich nicht nur in den baltischen Staaten Schlagzeilen. Und so wird es sicher auch nicht mehr lange dauern, bis sich auch andere ehemalige Rugbyspieler in Tallinn ihren Traum vom großen Auftritt erfüllen wollen.