»Realpolitik ist immer schizophren«

Edgardo Lander

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez gilt innerhalb und außerhalb Lateinamerikas als »Hoffnungsträger« für eine Erneuerung der Linken. Kritiker werfen ihm jedoch vor, dass seine autoritäre und populistische Politik die gesellschafltliche Emanzipation nicht fördert. Edgardo Lander ist Professor für Soziologie an der Universität von Caracas, er beschäftigt sich mit Eurozentrismus, Freihandel und Geopolitik und versteht die sozialen Bewegungen als wichtigstes Moment der Entwicklung Venezuelas. Mit ihm sprachen Birgit Marzinka, Niklaas Hofmann und Nils Brock.

Bislang hat Chávez vor allem gegen den Neoliberalismus gewettert. Nun aber gibt er sich betont antikapitalistisch und preist einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wie bewerten Sie diesen neuen Tonfall?

Ich sehe im Moment keine wirklich neue Vision. Denn bisher gibt es keine Definitionen und keine klaren Aussagen dazu, was den Sozialismus des 21. Jahrhunderts ausmachen soll. Aber ich finde es sehr interessant, dass verschiedene Optionen für einen Wandel der kapitalistischen Gesellschaft diskutiert werden. Denn der Kapitalismus als Gesellschafts- oder Produktionsform führt nicht nur zu einer Konzentration größerer Reichtümer, sondern schafft auch zerstörerische Prozesse, die das Leben auf der Erde irgendwann unmöglich machen werden.

Wir wissen nicht, ob das, was nach dem Kapitalismus kommt, schlechter oder besser sein wird. Es könnte auch ein globales autoritäres Regime entstehen, beispielsweise eine ökologische Diktatur. Aber das alles folgt natürlich keinem vorbestimmten Drehbuch, sondern hängt von menschlichem Handeln, von sozialen Kämpfen ab. Also ist es unerlässlich, über organisatorische oder produktive Modelle nachzudenken. Die Etiketten sind nicht so wichtig. Mich interessiert vielmehr, welche Dinge wir radikal ändern müssen.

Chávez versucht, die klassischen Institutionen zu übergehen. Sie bezeichnen diesen Stil als einen »Bypass«. Wo liegen die Chancen und Grenzen einer solchen Politik?

Es geht nicht so sehr um den Politikstil. Es ist offensichtlich, dass die staatlichen Strukturen in Lateinamerika und besonders in Venezuela durch zwei wesentliche Momente gekennzeichnet sind. Einerseits dienen alle Strukturen dazu, nichts zu ändern und die aktuelle Ordnung aufrechtzuerhalten. Nun gut, dafür ist der Staat ja auch gegründet worden. Aber darüber hinaus sind die staatlichen Strukturen auch dabei zusammenzubrechen. Denn sie sind ineffizient, von Korruption durchsetzt.

In Venezuela kommt hinzu, dass ein Teil der Bürokratie sich aktiv gegen jegliche Veränderung zur Wehr setzt. Es ist also ganz schwer, überhaupt eine Transformation der Institutionen zu planen. Der Bypass besteht nun darin, eine Art Mechanismus zu schaffen, um die staatlichen Strukturen umzudrehen. Heute dreht sich die Debatte in Venezuela zum Teil darum, in welchem Maße jene Strukturen, die ich Bypass nenne, ein Vorbild für die künftigen öffentlichen Institutionen sein könnten. Die Frage ist, wie man praktische Erfahrungen teilweise institutionalisieren kann, um alte Strukturen zu ersetzen. So könnte man neue Insitutionen mit völlig anderen Eigenschaften schaffen. Diese wären schneller in der Lage, auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zu reagieren, und transparent. Im Moment gibt es in Venezuela eine Vielzahl alter und neuer Institutionen, deren Beziehungen untereinander nicht besonders klar sind. Und ich glaube nicht, dass so etwas wie ein kohärentes Projekt existiert, um dieses Problem zu lösen.

Die Umgehung der staatlichen Institutionen ist einer der Gründe dafür, dass die Entwicklungen in Venezuela von den meisten lateinamerikanischen Linken positiv bewertet werden. Gab es von Beginn an diese Begeisterung für das bolivarianische Projekt von Chávez?

Eine Betrachtung des venezolanischen Prozesses im Licht der lateinamerikanischen Erfahrung ließen die Entwicklungen zunächst als einen militärischen Caudillismo mehr erscheinen. Mit einem populistischen Diskurs, einem antiimperialistischen und nationalistischen Kurs, so wie es eben viele Male in Lateinamerika der Fall war. Als sich der venezolanische Prozess konsolidierte und fortschritt, die Spannungen mit den USA zunahmen und das Profil eines partizipativen Projekts mit demokratischen Inhalten erkennbar wurde, begann sich die Wahrnehmung zu ändern.

Ich reise aus beruflichen Gründen sehr viel in Lateinamerika, bin in Kontakt mit vielen sozialen Organisationen und intellektuellen Gruppen, den Universitäten usw. Nun, in den ersten Jahren musste man viel erklären. Ich rede hier von meiner eigenen Meinung, denn ich bin ja nicht unterwegs, um für Chávez Propaganda zu machen. Wenn ich heute versuche, aktuelle Entwicklungen in all ihren Widersprüchen darzustellen, schlägt mir häufig ein uneingeschränkter Bolivarismus entgegen.

Ein weiteres Projekt der bolivarischen Linken ist »Alba«, das alternative Freihandelsmodell für Lateinamerika. Worin besteht die Alternative?

Alba sollte man sich nicht als ein Modell vorstellen, es ist viel eher eine Lagebestimmung. Ein Zeichen um aufzuzeigen, dass andere Beziehungen zwischen den Völkern möglich sind. Wie zum Beispiel im Fall des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Das ist ja auch eine Art Losung, eine Wette über die Zukunft dieses Namens, der schließlich mit Inhalten gefüllt werden muss. Alba fasst ganz unterschiedliche Interessen zusammen, es geht um gemeinsame Medienarbeit, Ideen über eine andere Energiepolitik. Es sollen alternative Integrationsmodelle entwickelt werden. Nicht alle Integrationsformen müssen marktwirtschaftlich sein, sie können sich stattdessen mit Geopolitik, kulturellen Themen und auch einer produktiven Integration beschäftigen.

Noch aber bezahlt Venezuela seine Auslandsschulden und gibt Garantien für die Ölförderung. Das scheint doch ein bisschen schizophren. Ist das einfach Realpolitik?

Realpolitik hat ja immer eine schizophrene Dimension. Es ist in der Tat so, dass vom militärischen und geopolitischen Standpunkt aus gesehen das Überleben eines Projekt des Wandels in Venezuela keineswegs garantiert ist. Die imperiale Regierung der Vereinigten Staaten hat gezeigt, dass sie das internationale Recht nicht respektiert. Um den Prozess des Wandels in Venezuela zu schützen, ist es absolut notwendig, niemals eine politische Konfrontation mit den USA zu einer Krise werden zu lassen, die die Rechtfertigung für eine militärische Reaktion liefern könnte. Außerdem muss Chávez Allianzen fördern, und zwar vor allem innerhalb Lateinamerikas, um sich geopolitisch nicht zu isolieren.

Im Gegensatz zu fast allen übrigen Ländern in Lateinamerika ist das ölreiche Venezuela in der Lage, seine Schulden zu bezahlen, ohne sich auf die Konditionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) einlassen zu müssen. Bis heute werden die Schulden ohne einen Tag Verspätung gezahlt, um nicht in Umschuldungsverhandlungen mit dem IWF treten zu müssen, der auf Strukturanpassungsmaßnahmen bestehen würde. Es ist doch besser, die Schulden zu bezahlen, um unsere Unabhängigkeit zu bewahren.

Dass die USA eine Menge venezolanisches Öl importieren, ist auch eine Sicherheitspolice. Außerdem verfügt Venezuela über ein Vertriebsnetz und Raffinerien in den USA. Wir reden hier unter anderem von einem Netz von 14 000 Tankstellen an der Ostküste der USA. Man kann das alles nicht von einem auf den anderen Tag verändern, ohne schwerwiegende Verluste hinnehmen zu müssen. Venezuela fehlen die geopolitischen und natürlich auch die militärischen Voraussetzungen, um einen Konflikt mit den USA auszutragen. Da hätte Venezuela alles zu verlieren.