Auf ein Gerücht folgt der Riot

Zwischen asiatischen und karibischen Gangs in Birmingham kam es zu schweren Auseinandersetzungen. Die Ursache war ein Vergewaltigungsvorwurf. von fabian frenzel, sheffield

Urban myth« ist ein englischer Ausdruck für Gerüchte, die so lange in den Straßen zirkulieren, bis sie jeder für wahr hält. Als »urban myth« entwickelte sich Anfang Oktober in Birmingham die Geschichte eines 14jährigen jamaikanischen Mädchens, das angeblich beim Klauen in einem Laden erwischt worden war. Das Mädchen soll vom pakistanischen Ladenbesitzer eingesperrt und später von ihm und herbeigerufenen Bekannten vergewaltigt worden sein. Diese Geschichte verbreitete sich in verschiedenen Variationen über Wochen zunächst im Birminghamer Stadtteil Lozells, wo der Vorfall sich ereignet haben soll, später in der ganzen Stadt. Schließlich wurde sie von einem bekannten DJ eines Piratensenders in Birmingham aufgegriffen. Er forderte »Gerechtigkeit für das Opfer« und rief zu Protesten vor dem Geschäft auf, wo sich das Verbrechen ereignet haben soll. Daraufhin übernahm auch das in London betriebene afro-karibische Nachrichtenportal »Ligali« die Story und rief zu einem englandweiten Boykott pakistanischer und asiatischer Geschäfte auf, »bis die asian community die Mauer des Schweigens bricht«.

Nach zunächst friedlichen Protesten von einigen hundert karibischen Bewohnern in Lozells eskalierte die Situation am vorletzten Wochenende. Gruppen von asiatischen und schwarzen Jugendlichen lieferten sich Straßenschlachten untereinander und mit der Polizei. Geschäfte wurden geplündert und Autos in Brand gesteckt. Zwei Tote und 35 Verletzte waren die Bilanz der Unruhen, die über zwei Nächte anhielten.

Völlig ungeklärt ist dabei nach wie vor der Wahrheitsgehalt des Vergewaltigungsvorwurfs.

Die Tatsache, dass es bisher keine Anzeige der Vergewaltigung gibt, führen die Kommentare in karibischen Internetforen darauf zurück, dass das Opfer ohne Papiere in England lebe, traumatisiert sei und Angst vor einer Abschiebung habe. Und während auch im asiatischen Forum »RateDesi« eine Untersuchung der Vorwürfe gefordert wird, sind sich viele pakistanische Bewohner Lozells einig: Der eigentliche Auslöser der Unruhen ist der ökonomische Neid auf die asiatischen Einwanderer, die die meisten Geschäfte in der Nachbarschaft betreiben.

Noch vor den Unruhen hatte die britische Polizei das Kosmetikgeschäft, in dem sich der Vorfall ereignet haben soll, forensisch untersucht und keine Hinweise auf eine Vergewaltigung gefunden. Der Ladenbesitzer sowie seine fünf Mitarbeiter hatten bei der Polizei Aussagen gemacht, um – wie sie erklärten – ihre Unschuld zu beweisen. Auch ein zweiter Fall einer 30jährigen Schwarzen, die unmittelbar vor den Unruhen Anzeige wegen sexueller Belästigung in einem Geschäft gestellt hatte, bleibt weiterhin ungeklärt. Fünf asiatische Männer, die im Zusammenhang mit der Anzeige festgenommen worden waren, wurden nach ihrer Befragung auf Kaution aus dem Polizeigewahrsam entlassen.

Dass ein unbewiesenes Gerücht über ein Gewaltverbrechen zu blutigen Unruhen führt, weist auf das angespannte Verhältnis zwischen schwarzen und asiatischen Einwanderern in Lozells hin.

Hintergrund dieser Spannungen ist die soziale Dynamik der britischen Metropolen, in denen sich die ärmsten Bevölkerungsschichten in bestimmten Stadtteilen konzentrieren und sich soziale Konflikte zwischen verschiedenen Einwanderungsgruppen ethnisch einfärben.

Birmingham blickt auf eine 60jährige Geschichte karibischer Einwanderung zurück, in der es bereits 1965 zu rassistischen Ausbrüchen der damals noch hauptsächlich weißen Einwohner kam. Don Finney’s »English Rights Association« mobilisierte damals im Birminghamer Stadtteil Smethwick für die Deportation aller Einwanderer und erhielt viel Unterstützung von weißen Arbeiterfamilien, die keine schwarzen Nachbarn wollten.

20 Jahre später hatten sich das Einwanderungsmuster Großbritanniens und damit die Zusammensetzung der armen Stadtteile Birminghams geändert. Während die meisten weißen Familien, aber auch sozial aufsteigende Einwanderer die Innenstadt verlassen hatten, waren durch Änderungen im britischen Immigrationsregime nun verstärkt Einwanderer aus Pakistan und Bangladesch nach Großbritannien gekommen.

In Lozells begann sich eine neue Konfliktlinie zu entwickeln, als viele der asiatischen Einwanderer Geschäfte aufmachten und langsam die afrikanischen und karibischen Ladenbesitzer verdrängten. 1985 kam es dort zu tagelang andauernden Straßenschlachten zwischen asiatischen Jugendlichen und der Polizei, bei denen zwei Menschen starben. Misstrauen der asiatischen Community gegen die angeblich rassistisch operierende Polizei löste die Unruhen aus. Damals verhielten sich die afrikanischen und karibischen Bewohner Lozells’ noch weit gehend solidarisch mit den asiatischen Jugendlichen. Die Gangs beider Gruppen arbeiteten auch in der Folge oft zusammen, weil sie gemeinsame Feinde, englische Skinheads und Hooligans sowie die Polizei, hatten.

Doch über die letzten 20 Jahre hat sich das Verhältnis zwischen afro-karibischen und asiatischen Einwanderern in Lozells immer weiter abgekühlt. Die Geschäfte in der Lozells Road, Hauptstraße des Viertels und Schauplatz der Unruhen, sind heute beinahe ausnahmslos in asiatischer Hand, und die afro-karibischen Bewohner sind von diesen Läden abhängig. Weil sie länger in Großbritannien sind als die asiatischen Einwanderer, fühlen sie sich nun überrumpelt und abgedrängt.

»Was das Gerücht um die Vergewaltigung so glaubwürdig macht, hat mit dem Gefühl von vielen afro-karibischen Bewohnern zu tun, die sich bei ihren täglichen Einkäufen in pakistanisch betriebenen Läden durch eine herabsetzende Behandlung seitens der Ladenbesitzer diskriminiert fühlen«, erklärt der Sozialarbeiter Nick Foster.

Die Gangs, die insbesondere die rechte Tabloidpresse in teilweise rassistischer Zuspitzung verantwortlich für die Gewalt in Birmingham macht, sind in Großbritannien überall dort zu finden, wo soziale Probleme vorherrschen und die Aufstiegsperspektiven gering sind. Insbesondere in den Großstädten gehören sie zum Alltag der ärmeren Stadtviertel und formieren sich oft auch über ethnische Grenzen hinweg. »Es ist ironisch, dass viele Konservative die Gewalt der Gangs zum Anlass nehmen, wieder einmal über zu viele Einwanderer und über die gescheiterte Integration zu lamentieren«, erklärt Foster. »Dass sich afro-karibische und asiatische Jugendliche der Arbeiterklasse in Gangs organisieren, ist dagegen eher ein Ausdruck ihrer Integration in Strukturen, die in Großbritannien so lange existieren wie die Arbeiterklasse selbst.«