Ärger mit dem Müll

Die Ausschreitungen in den Banlieues zeigen die destruktive Tendenz einer Gesellschaft, die immer mehr Menschen als »Humanmüll« betrachtet. von karl-heinz lewed

Besser dokumentiert ist wohl kaum eine Chronik des sozialen Verfalls als die Geschichte der französischen Banlieues. Wurden Anfang der achtziger Jahre noch knapp zwei Dutzend Kommunen von den französischen Behörden als »sensible urbane Zonen« eingestuft, so waren es zehn Jahre später bereits über 300 und im Jahre 2002 gar 750. Entgegen allen Versuchen der Politik, ob von links mit Sozialprogrammen oder von rechts mit Repressalien, diesen Prozess zu stoppen, wurde am Ende alles nur noch schlimmer.

4,2 Millionen Menschen leben in diesen Distrikten, in denen scheinbar unaufhaltsam das soziale Gefüge auseinander bricht. Gerade in Frankreich, das sich gerne auf seine libertären Traditionen beruft, wird dieser Befund als besonders bitter empfunden, und allerorten wird über das Scheitern des französischen Integrationsmodells geklagt. Der Glaube an die Kraft politischer Gestaltung ist freilich längst an der kapitalistischen Faktizität gescheitert.

In dieser Lage sind Pragmatiker gefragt, d.h. Notstandsverwalter der Sachzwänge. Rein aus pragmatischen Gründen verhängen sie schon mal den Ausnahmezustand, bevor wieder zur Tagesordnung übergegangen wird. Doch weder der Ausnahmezustand noch die Millionen aus Brüssel und schon gar nicht Jacques Chiracs lächerlicher Einfall, einen freiwilligen Bürgerdienst für 50 000 Jugendliche einzuführen, wird grundsätzlich etwas verändern. Der sozial-ökonomische Verfallsprozess ist von der Politik nicht mehr aufhaltbar.

Mit der sozialen Katastrophe in den französischen Vorstädten tritt eine gesellschaftliche Entwicklung zutage, die jenseits der politischen Kommandobrücken, gewissermaßen im Maschinenraum des Kapitalismus, vonstatten geht. Die politischen Steuermänner können noch so entschlossen das Steuer herumwerfen, an der grundsätzlichen Entwicklung wird dies keinen Deut ändern, nämlich dass der kapitalistischen Maschine zusehends der Treibstoff ausgeht: Sie kann die menschliche Arbeitskraft immer weniger verwerten.

Im fordistischen Boom der fünfziger und sechziger Jahre saugte das Kapital in den kapitalistischen Zentren massenhaft Arbeitskräfte für die expandierenden Märkte der Warenproduktion, etwa für die Auto-, Chemie- oder Elektroindustrie, ein. Migranten dienten damals dazu, den zusätzlichen Bedarf an lebendiger Arbeit, also an Arbeitskräften, in den Metropolenländern zu decken. Doch infolge der ungeheuren Dynamik der Produktivkraftentwicklung hat seit den siebziger Jahren der Bedarf der kapitalistischen Maschine an Arbeitskräften ebenso stetig abgenommen wie die Masse der Arbeitslosen gewachsen ist.

Aus der Krise der Verwertung resultierte einerseits die Suche des Kapitals nach neuen Anlagemöglichkeiten in Zeiten der Globalisierung und andererseits die Transnationalisierung von Armut und Elend. Den Gewinnern im weltweiten Konkurrenzkampf steht eine stetig wachsende Zahl von Herausgefallenen gegenüber, die von der gnadenlosen Dynamik ökonomischer Gesetzmäßigkeiten faktisch zum Humanmüll erklärt werden: »Treibgut auf den vermüllten Stränden der Wirtschaft«, wie es der französische Essayist Sami Tchak im Hinblick auf die Banlieues ausgedrückt hat.

Fiel dieses Treibgut bislang vor allem in der so genannten Peripherie an, so findet es sich nunmehr auch in den kapitalistischen Zentren wieder. So, wie die Regionen einer noch funktionierenden Verwertung schrumpfen, wachsen die Gebiete der ökonomisch verbrannten Erde. Dabei folgt der Ausschluss, ganz entgegen dem bürgerlichen Mythos von Gleichheit und Brüderlichkeit, einer rassistischen Logik. Dies gilt für New Orleans ebenso wie für Birmingham oder eben auch für Frankreich, das Land der égalité. Bereits im »normalen« kapitalistischen Arbeitsprozess ist die Verwertung mit Hierarchien, die nach Herkunft und Geschlecht funktionieren, verknüpft.

Im Krisenprozess bedeutet die rassistische Ausschlusslogik aber die weitgehende Entfernung des Betroffenen aus dem Universum gesicherter Arbeit. Dieser Ausschluss aus den regulären ökonomischen Kreisläufen führt zu den bekannten Erscheinungen vom Drogenhandel bis zur Bandenkriminalität. Nicht zufällig machen fast ausschließlich männliche Jugendliche auf diesen sekundären Betätigungsfeldern der Marktwirtschaft Karriere. Die Gewalt in den Vororten reproduziert die männlich dominierte Struktur der bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen und treibt sie sogar auf die Spitze.

Das Beharren auf männlicher Dominanz kann sich angesichts der Objektivität von Verfall und Zerstörung nur mehr darin äußern, die Zerstörung selbst in die Hand zu nehmen. Das Milieu der materiell prekären und sozial zerrüttenden Wohnviertel, entstanden zuerst in den USA und dann weltweit, hat ein männlich-nihilistisches Lebensgefühl erzeugt, das sich in der Kultur des Gangster-Rap und der Stilisierung des Cool-Seins ausdrückt. Der Machismo-Kult wird zum Rückzugsgebiet einer Subjektivität, die im täglichen Konkurrenzkampf in zerrütteten Lebenswelten noch nach Halt und Selbstsicherheit sucht.

Über die Medien- und Kulturindustrie vermittelt, steht diese Generation weniger außerhalb des westlichen Werte- und Konsumuniversums als ihre Eltern. Sie ist im Gegenteil vom Habitus und ihrer Orientierung her auf ihre Weise völlig integriert. Im Gegensatz zur Migrantenjugend in Deutschland sprechen die Jugendlichen in den Banlieues französisch und berufen sich auf ihren Status als französische Staatsbürger. In Deutschland, das den Migranten immer nur ökonomische Integration, aber nie die Integration als Citoyen versprach, ist das unvorstellbar.

In Frankreich eskaliert der Widerspruch zwischen einer gelungenen kulturellen Integration einerseits und dem sozialökonomischen Ausschluss sowie einer Atmosphäre rassistisch motivierter Ausbürgerung andererseits. Weil der Ausschluss nicht über ethnische Kriterien vollzogen wird, d.h. ein gemeinsamer kultureller Bezugsrahmen vorhanden ist, haben die Unruhen die Dimension eines Anerkennungskampfes, auch wenn dieser paradoxerweise nur noch die Zerstörung im Sinn hat.

Es geht also dem »Abschaum und Gesindel« (Nicolas Sarkozy) zumindest noch nicht um einen »Clash of Civilisations« mit essenzialistischen Differenzen im Kulturen- bzw. Ethnozoo. Vielmehr ist der Protest ein Impuls gegen die Ausgrenzung und Entsorgung als Humanmüll, der sich an der von den Rechten betriebenen rassistischen Legitimierung des Ausschlusses entzündet hat. Nichts anderes steht hinter den markigen Sprüchen vom »Pack« und den »Hochdruckreinigern«, die die Stadtviertel säubern sollen.

Es ist deswegen auch falsch, die Unruhen als völlig apolitischen Ausdruck bloßer Gewalt einzuordnen. Der Appell der intellektuellen und politischen Eliten, die Protestierenden mögen nach gut republikanischer Tradition von den Barrikaden herab doch bitte ihre politischen Forderungen vorstellen, zeigt doch eher die Naivität und Ignoranz dieser Eliten gegenüber den gesellschaftlichen Zerfallsprozessen. Was sollte die Zukunftsperspektive für diese Jugend sein: 5000 Sozialarbeiter oder ein Basketballplatz? Die Zerstörungswut in den Banlieues drückt die destruktive Tendenz einer Gesellschaft aus, die ihr Überleben an den Verkauf der Arbeitskraft gebunden hat, immer mehr Menschen diese Existenzgrundlage aber entzieht.