An Klinsi hat es nicht gelegen

Deutschland scheitert unglücklich in der Vorrunde, Schröder wird wieder Kanzler – und alles wegen Klinsmann. Die Ergebnisse aller Spiele der Nationalmannschaft und die Erklärungen des Bundestrainers verrät vorab joachim lottmann

Und noch einmal: 2006 beginnt das berühmte, historische WM-Jahr. Wer wäre ich, wenn ich mich dazu nicht verhalten, mich dem nicht stellen, ja mich buchstäblich in Stellung bringen würde? Bin ich etwas Besseres? Bin ich schwul, oder was? Nein, ich bin Antifaschist, spiele mit linken Kölner Künstlern Fußball, informiere mich über den Zustand der Nationalmannschaft und verachte Jürgen Klinsmann als einen »Warmduscher«. Lassen wir meine Schwiegermutter sprechen: »Der Klinsmann kommt aus Baden-Württemberg, ist ein Bäcker-Junge und ist schon recht sympathisch. In seiner Haut möchte ich nicht stecken. Ich mein’, er verdient ein Schweinegeld, aber das nützt ja auch nichts. Ob er von Menschenführung was versteht, steht auf einem anderen Blatt, gell, das weiß ich nicht.«

Diese Frau steht für eine Minderheit in der heutigen Bürgergesellschaft, die sich zur Fußball-WM zwar in irgendeiner Weise verhalten will, aber an dem Stolperstein »Jürgen Klinsmann« so wenig vorbeikommt wie Stan Libuda an Horst Höttges. Es entsteht eine Art stehendes Spiel, eine Patt-Situation: Will man sich wirklich zur WM äußern, so lange dieser Klins­mann noch im Amt ist? Auch Frauen spüren, dass mit Klinsmann als Trainer die bundesdeutsche Mannschaft praktisch gar nicht auf dem Platz ist, gar nicht wirklich an der WM teilnimmt. Mit einem anderen Trainer wäre sie zwar Teil des Turniers, aber mit welchem? Mit Ottmar Hitzfeld wäre ihr der Titel absolut sicher. Mit Otto Rehagel käme sie ins Viertel- oder Halbfinale. Mit Ralf Rangnick wäre ein Erfolg in der Vorrunde wahrscheinlich.

Über das WM-Jahr etwas zu sagen, ohne die genaue Platzierung des deutschen Teams, also seinen letztendlichen Erfolg oder Misserfolg zu kennen, wäre also sinnlose Kaffeesatzleserei. Als mich die Redaktion der Jungle World bat, dennoch eine Einschätzung der Ereignisse im Sommer 2006 vorzunehmen, sagte ich nur deshalb zu, weil mein Fußballverstand größer ist als der der allermeisten Experten.

Beginnen wir also wieder mit Bundestrainer und Ex-Kanzler-Schröder-Bewunderer Jürgen Klinsmann. Er redet dieses widerwärtige Therapeutendeutsch. Da Deutschland als Gastgeber schon vorab qualifiziert war, konnte Klinsmann in seiner gesamten Trainerkarriere noch kein einziges Pflichtspiel bestreiten (abgesehen von dem völlig belanglosen »Confederation Cup«). Und weil er vorher noch nie eine Profimannschaft trainierte und alle Spiele der Nationalmannschaft unter seiner Führung reine Freundschaftsspiele waren, also sinnlos, hat er noch nie ein echtes Match gewonnen oder verloren. Wir wissen also nicht, ob er erfolgreich ist, er hat bisher weder Erfolge noch Misserfolge vorzuweisen. Wir wissen von ihm lediglich, dass er sogar alle Freundschaftsspiele gegen halbwegs normal starke Gegner verloren hat. Und wir wissen, dass er dieses Therapeutendeutsch spricht. Nach jeder Niederlage redet er so euphorisch, verständnisvoll, verständig, gut meinend und »menschlich« in die Kamera, dass jeder ihn für einen guten Mann, sprich Trainer hält.

Trotzdem wird Deutschland das Eröffnungsspiel »unglücklich« mit 0:3 verlieren. Klinsmann nach dem Spiel: »Es kommt nicht darauf an, nicht zu verlieren, sondern wie man mit einer Niederlage umgeht. Wir haben nie gesagt, dass wir niemals verlieren werden. Das wäre doch vermessen! Das wäre doch wirklichkeitsvergessen. Aber wir haben gesagt, dass wir am Ende Weltmeister sein werden. Gerade weil wir Fehler machen, weil wir durch jeden Fehler lernen, durch jeden einzelnen Fehler letztendlich stärker werden. Gut, das 0:1 war nicht das Gelbe vom Ei, aber danach haben wir bis zum 0:2 mehr vom Spiel gehabt, haben Chancen gehabt, haben das Spiel geradezu umgebogen. Das war für mich das Entscheidende, also, dass die Truppe Moral gezeigt hat. Das 0:3 kurz vor Schluss war dann auch egal. Das war nur logisch, weil wir Risiko gegangen sind, und dazu stehe ich.«

Nach Costa Rica steht dann Polen auf dem Programm, und auch da gibt es eine Niederlage, allerdings eine äußerst knappe, nämlich 1:2. Der Siegtreffer für die Osteuropäer fällt erst in der zweiten Halbzeit. Vorher gelingt es der deutschen Elf, mit viel Kampfgeist einen (wenn auch verdienten) Rückstand zu egalisieren. Klinsmann spricht von Fortschritten, greift keinen Spieler an, stellt sich vor die Mannschaft, macht in Fernsehinterviews eine gute Figur. Die Deutschen vertrauen ihm, keiner lässt ihn fallen. Bild-Zeitung: » Klinsi, wir stehen zu dir!« Da die Gruppengegner alle Unentschieden spielen, ergibt sich die glückliche Lage, dass die drei Punkte im dritten Spiel gegen Ecuador unter Umständen zum Weiterkommen reichen, wenn das andere Spiel dieses Spieltages wieder unentschieden endet.

Beckenbauer schaltet sich ein, verhandelt hinter den Kulissen. Das andere Spiel geht tatsächlich unentschie­den aus. Aber Deutschland verliert gegen die Südamerikaner erneut sehr unglücklich mit 1:4. Klinsmann tritt zurück, doch alle bescheinigen ihm: »An Klinsi hat es nicht gelegen« (Bild-Zeitung). Klinsmann verteidigt seine Mannschaft und seine Winner-Philosophie, seufzt aber: »Ich hätt’ die Tore ja nicht auch noch selbst schießen können« (ZDF). Seine Marketing-Firma »Soccersolutions« macht einen Gewinn in zweistelliger Millionenhöhe, in Dollar.

Klinsmann fliegt sofort nach Kalifornien zurück. Aber was wird aus dem Turnier, das doch gerade erst begonnen hat? Ein Turnier ohne Gastgeber – furchtbar peinlich! Das hat es wohl noch nie gegeben, dass der Gastgeber in der Vorrunde rausflog.

In Deutschland bricht die totale Depression aus: »Verloren trotz Klinsi – was soll jetzt aus dem deutschen Fußball werden?« titelt ganzseitig der Kölner Express. Taxifahrer, Proleten, Unterschichtsidioten, aber auch Zeit-Leser und Gewerkschafter sehen in der Fuß­ballmisere die Götterdämmerung des deutschen Wesens: »Sind unsere verwöhnten Fußball-Millionarios einfach zu faul?« (Moderator Panzer im ZDF-Nachtstudio). Kein Wort darüber, dass in Italien, Spanien, Eng­land und so weiter dieselben Gehälter gezahlt werden.

Die Deutschen verfallen in ihr unausweichliches Gejammer, die Kanzlerin muss zurücktreten. Fußballkanzler Gerd »Acker« Schröder bildet eine neue Koalition, diesmal mit der FDP und den Grünen. Auf Druck der Medien und der ungeschriebenen Regeln des Bundestages muss er jedoch seinen Sitz im Aufsichtsrat von Gazprom abgeben. Den bekommt, natürlich, Klinsmann. So viel Dank muss sein.