Viktor gegen Viktor

Die ehemalige Opposition ist zerstritten, und der Verbündete des gestürzten Präsidenten Kutschma führt wieder die stärkste Partei. Ein Jahr nach der orangenen Revolution ist der Ausgang der Wahlen in der Ukraine offen. von franziska bruder

Auf diesen Tag hatte die Presse gewartet: Der 10. März war der letzte Termin, an dem ukra­inische Medien Ergebnisse von Meinungsumfragen zu den bevorstehenden Parlamentswahlen veröffentlichen durften.

Zur großen Überraschung vor allem westlicher Medien schwankten zwar konkrete Werte einzelner Parteien, hinsichtlich der Tendenzen jedoch war das von den vier führenden Meinungsforschungsinstituten ermittelte Ergebnis einhellig: Derzeit liegt die von Viktor Janukowitsch angeführte Partei der Regionen mit etwa 25 Prozent an der Spitze. Es wird jedoch zugleich deutlich, dass es derzeit keine Koalitionsmehrheit der politischen Kräfte gibt, die sich dezidiert gegen die so genannte orangene Revolution stellen. Andererseits könnten die vier Gruppierungen der Bewegung, die vor einem Jahr Neuwahlen durchgesetzt hatten, aus denen Viktor Jusch­tschenko als Präsident hervorging, rechnerisch eine regierungsfähige Mehrheit bilden. Doch es ist fraglich, ob sie nach den Wahlen am 26. März tatsächlich eine gemeinsame Regierung bilden wollen.

Das Parteienbündnis Nascha Ukrajina, der Block Julija Tymoschenko, die Sozialistische Partei der Ukraine und die Partei der Reformen und der Ordnung »Jetzt ist die Zeit« (Pora), im vorvergangenen Winter noch bekannt als »die Jugendbewegung«, zerstritten sich vor einem halben Jahr insbesondere über der Frage, wie man mit den bis dato abgeschlossenen Privatisierungen großer Staatsbetriebe umgehen solle. In vielen Fällen soll Bestechungsgeld geflossen sein, und Tymoschenko setzte sich als Premierministerin dafür ein, die Verkäufe zu überprüfen, die Privatisierung gegebenenfalls rückgängig zu machen und dann die Objekte erneut zu veräußern. Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit hinsichtlich bestehender Eigentumsverhältnisse löste bei ausländischen Investoren Proteste aus und stieß beim Präsidenten auf Abwehr.

Im September setzte Juschtschenko die Regierung Tymoschenkos kurzerhand ab. Das Bündnis der »orangenen Revolution« hatte sich nach einem halben Jahr restlos zerstritten. Als Nationalkommunisten, schimpfte der danach zum Premierminister ernannte Jurij Jechanurow im Wahlkampf, müsse man den Block Julija Tymoschenko bezeichnen. Allerdings bescheinigt er den Anhängern seiner Vorgängerin ebenso, sie seien Demokraten, im Gegensatz zu den Gefolgsleuten Janukowitschs.

Jechanurow betont vor allem die Werte, die das ehemalige orangene Lager verbinde: das Streben nach Demokratie, das Verständnis von fairen Wahlen, der Kampf gegen die Korruption und die Orientierung nach Westen. Was aber bedeutet das für die Menschen im Alltag? Anfang Februar meldeten die ukrainischen Zeitungen, dass es vom 16. bis zum 31. Januar 589 Kältetote in der Ukraine gegeben hat. Die meisten von ihnen waren in Ballungszen­tren wie Charkiv im Osten des Landes gestorben, dem gemeinhin als reicher geltenden Lan­des­teil, in dem traditionell das Wählerklientel der Partei der Regionen angesiedelt ist.

Dort bilden, im Gegensatz zum Westen der Ukraine, jene die Mehrheit, die sich als zweisprachig bezeichnen und Russisch als erste Sprache angeben. Viele pendeln auch zur Arbeit nach Russland. Daher sind die Forderungen Janukowitschs, der sich für die Zweisprachigkeit und eine stärkere politische und wirtschaftliche Orientierung an Russland ausspricht, in dieser Region populär. In westukrainischen Zeitungen wird dies bisweilen mit Häme kommentiert: So wird in der Lemberger Zeitung Postup ein Ukrainer aus Luhans’k mit den Worten zitiert, er werde für Janukowitsch stimmen, da dieser ja schließlich auch gesessen habe – als ob im Osten vor allem Kleinkriminelle lebten.

Andererseits ist nachvollziehbar, dass im bevölkerungsärmeren und wirtschaftlich viel schwächeren Westen die Ansicht vorherrscht, dass nun endlich die Dominanz der russischen Kultur gebrochen und Ukrainisch die allein anerkannte Sprache werden müsse. Andernfalls, so die Argumentation, werde sich das bislang benachteiligte und mit geringerem Sozialprestige ausgestatte Ukrainisch nicht durchsetzen können. Sprachpolitik wird heftig debattiert und gerne als Mittel im Wahlkampf eingesetzt. Mitte Februar beschloss das Parlament der Autonomen Republik Krim, am Tag der Parlamentswahlen ein Referendum durchzuführen, mit dem über eine Zweisprachigkeit auf der Krim abgestimmt werden soll. Immerhin hatte der Antragsteller der Fraktion »Für Janukowitsch« bereits 300 000 Unterschriften gesammelt, beachtlich bei den insgesamt circa 1,5 Millionen Wahlberechtigten der Halbinsel.

Jechanurows Beschwörung gemeinsamer Werte der orangenen Revolution wirkt auch aus anderen Gründen seltsam. So war der Vorwurf der Vorteilsnahme eines der Argumente bei der Absetzung Tymoschenkos im vergangenen Herbst. Auch die Stigmatisierung der Fraktion Janukowitschs als Oligarchenklüngel greift zu kurz. Selbstverständlich ist bei der Partei der Regionen die Präsentation Rinat Achmetows, der als reichster Ukrainer gilt, nicht zu übersehen und gewollt. Er rangiert auf einem aussichtsreichen Listenplatz. Aber auch bei den Orangenen waren immer Oligarchen wie Petro Petroschenko an einflussreicher Stelle, und ohne ihre Hilfe wäre auch Juscht­schen­ko nie an die Macht gekommen.

Janukowitsch wiederum qualifiziert seine Kontrahenten als Nationalisten ab. Eine unzutreffende Verallgemeinerung, allerdings ist es frappierend, dass das Mitglied der rechtsextremen Una-Uno, Andriy Schkil, den Listenplatz 13 des Blocks Julija Tymoschenko belegt. Auf der Internetseite des Parteienbündnisses Nascha Ukrajina finden sich die Selbstdarstellungen der einzelnen Gruppierungen, aus denen es sich zusammensetzt. Eine davon ist der Kun, der Kongress der Ukrainischen Nationalisten, eine Fraktion, die sich selbst als Erbin der OUN-UPA bezeichnet, die während des Zweiten Weltkrieges für große Massaker an Polen und Juden verantwortlich war.

Doch auch ihre Verbindungen zum Westen werden den Gegnern Janukowitschs vorgeworfen. Der Machtwechsel war, wie mehrere Untersuchungen gezeigt haben, nur mit der finanziellen und organisatorischen Unterstützung vor allem US-amerikanischer NGO möglich. Dies diskreditiert jedoch nicht die Menschen, die wochenlang auf dem Platz der Unabhängigkeit gegen die Wahlmanipulation des damaligen Präsidenten Leonid Kutschma und seines Verbündeten Janukowitsch demonstriert haben. Sie waren und sind dennoch Träger dieser Entwicklung. Ohne ihr Durchhaltevermögen wäre der Erfolg nicht möglich gewesen.

Das Wesentliche am Wechsel waren der Zusammenbruch des alten Regimes und die Spielräume, die sich für verschiedene soziale und politische Gruppen daraus zunächst ergaben. Die alte Oligarchie ist weiterhin stark, eine neue Machtstruktur hat sich bis heute nicht klar herauskristallisiert und konsolidiert. Anders als im Nachbarland Belarus ist das Wahlergebnis daher ebenso offen wie die Koalitionen, die sich aus ihm ergeben werden.