Ruth Klügers Aufsatzsammlung »Gelesene Wirklichkeit«

Dichtung und Wahrheit

Ruth Klügers Aufsatzsammlung »Gelesene Wirklichkeit« untersucht das spannungsreiche Verhältnis zwischen faktischer Erinnerung und Kitsch.

Theodor W. Adorno kolportierte die Bemerkung einer Frau, die »Das Tagebuch der Anne Frank« als Theaterinszenierung gesehen hatte und danach seufzte: »Die hätten sie am Leben lassen sollen.« Auch Ruth Klüger bezieht sich in ihrem Aufsatzband »Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur« auf diese bizarre Anekdote, um zu verdeutlichen, welche entlarvenden Affekte »die gezielte Kultivierung gewisser Gefühle um ihrer selbst willen« provozieren könne: »So kann es kommen, dass jemand ein Kind lieb und gut findet und ihm oder anderen Kindern im nächsten Augenblick die Lebensberechtigung abstreitet«, stellt die 1947 in die USA emigrierte Literaturwissenschaftlerin fest.

Die Zeiten ändern sich eben – und mit ihnen auch die Rezeption und die Bedeutung bzw. die öffentliche Instrumentalisierung der Literatur. Der große Erfolg des Anne-Frank-Tagebuchs in der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte viel mit der philosemitischen Heuchelei eines deutschen Publikums zu tun, das seine persönliche Mitschuld an den NS-Verbrechen mit sentimentalem Pathos zu kaschieren suchte. Dass Text und (historischer) Kontext verschränkt seien, versucht Klüger mit solchen Beispielen zu untermauern: Die Frage nach der »Wahrheit« oder Verfälschtheit nacherzählter Geschichte treibt sie nicht zuletzt als Überlebende des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz in besonderem Maße um.

Ihr Buch enthält ein Dutzend Texte, die zu unterschiedlichen Anlässen von 1986 bis 2005 entstanden sind. Aus verschiedenen Perspektiven geht es darin immer wieder um die Frage nach »hoher« und »niedriger« Literatur, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten (fiktionalen) Erinnerns und seines drohenden Umkippens in bloßen Kitsch. Dabei ist es nicht zuletzt von Belang, wer sich welche Werke und »Wahrheiten« zu Eigen macht und tradiert: Wenn etwa Wolfgang Koeppen 1992 den Bericht eines überlebenden Juden, Jakob Littner, den er bereits 1948 für den Herbert Kluger Verlag stilistisch überarbeitet und – wie Klüger meint – in verfälschender und unvorteilhafter Weise verstümmelt hatte, plötzlich als sein eigenes Buch neu auflegen lässt, so hält die Autorin dies nicht nur für ein Plagiat. Vielmehr zeiht sie Koeppen und dessen Verleger Siegfried Unseld einer »Vertuschung und Verleugnung«, ja einer »Enteignung und Erniedrigung« Littners »über das Grab hinaus«: »Sowohl Koeppen wie sein Verleger Unseld gehörten einer Generation an, die mit Arisierungen nicht gerade zimperlich umgegangen ist«, schreibt Klüger. »Natürlich verkauft sich ein unbekannter, daher neuer Koeppen-Roman besser als ein alter Littner-Tatsachenbericht eines Unbekannten. Wahrscheinlich redeten sie sich sogar ein, philosemitisch wohlwollend zu handeln.«

Wer genau in einem historisch daherkom­menden Text spricht und welche Worte sein Erzähler wählt, gewinnt demnach an Bedeu­tung. In einem lesenswerten Beitrag über den »KZ-Kitsch« stellt Klüger fest, die Erinnerung sei keine »Fähigkeit, keine Tugend«. Sei es dem gesunden Menschen doch gar nicht gegeben, sich nicht zu erinnern: »Erinnern ist kein Verdienst, wie ja auch das Weiterleben kein besonderes Verdienst ist. Das Erlöschen der Erinnerung ist eine Krankheitserscheinung, kein Normalzustand. Die Frage nach dem Erinnern ist eine Frage des ›Wie‹, nicht des ›Ob‹.«

Dem jüdischen Geschichtsbewusstsein kommt deshalb nach Auschwitz eine besondere Qualität zu, zumal das Gedenken »gewissermaßen die jüdischste aller Beschäftigungen« sei, wie Klüger augenzwinkernd bemerkt. Sei es doch seit jeher die »kollektive Erinnerung, die uns überhaupt zu Juden macht. Wer sie nicht hat, der hat keinen Zugang zu dieser Gemeinschaft.«

Bei Sigmund Freud sei diese Erinnerung gar »zum Status der Wissenschaftlichkeit und gleichzeitigen Heilslehre« geadelt worden, »nämlich der Psychotherapie«. »Und sobald wir an seine Theorien über Tiefenpsychologie denken, so wird auch die näch­ste Folgerung klar«, schreibt Klüger: »Erinnerung ist keine gemütliche, badewasserlaue Angelegenheit, sondern ist eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit.« Dies genau sei übrigens der Grund für die Erfindung des Kitschs, als eine Form der »Verklärung, mit der wir so gern Blut, Schweiß und Kotze der wirklichen Gedächtnisprodukte verpacken.«

Daraus folgen verschiedene literarische Formen des Umgangs mit Geschichte: Ein ehemaliger SS-Täter wird sich anders an Auschwitz erinnern als ein überlebender Jude, der für diesen Sklavenarbeit leisten musste – und es bedeutet auch etwas anderes, wenn Primo Levi über seine erlittene Zeit im Vernichtungslager schreibt, als wenn »ein Mann namens Wilkomirski« ein Buch über seine Kindheit im KZ verfasst, von der sich herausstellt, dass sie frei erfunden ist: »Machen Sie die Probe aufs Exempel«, empfiehlt Klüger in ihrem Vortrag »Fakten und Fiktionen«, den sie auf dem 42. Deutschen Historiker­tag in Frankfurt am Main hielt und erstmals 2000 publizierte: »Eine Stelle, die vielleicht gerade in ihrer naiven Direktheit erschütternd wirkt, wenn man sie als Ausdruck erlebten Leidens liest, und die sich dann als Lüge erweist, verkommt in der Darstellung erfundenen Leidens zum Kitsch. Kitsch ist immer plausibel, bis man ihn durchschaut und die Wahrheit ihn in seiner Lächerlichkeit entlarvt.«

Damit ist auch klar, dass Klüger vom viel beschworenen literaturwissenschaftlichen Theorem eines »Tods des Autors« in der Postmoderne nichts mehr wissen will. Die besonders ihrer Generation in der Nachkriegszeit eingeschärfte Behauptung, »nicht-sprachliche und nicht-literarische Maßstäbe kämen für die (Beurteilung von) Literatur nicht in Frage«, weist die Autorin gerade als jüdische Überlebende der Shoah in einer späten Kritik der in den sechziger Jahren Schule machenden Hermeneutik Paul de Mans zurück: »Alles war festgelegt, die Fakten waren die Fakten, und die Dichtung war beschränkt aufs rein Mensch­liche, und etwas später aufs rein Textliche, mit dem Dekonstruktivismus, den ein belgischer Kritiker, der selbst einiges zu verschleiern hatte, mit großem Erfolg an amerikanischen Universitäten einführte«, kritisiert Klüger. »Und wenn man jetzt zurückschaut, so kann man nicht umhin zu fragen, ob das alles nicht eine Flucht vor der Geschichte war, nämlich einer Geschichte, die man am eigenen, fast verbran­nten Fleisch erlebt hatte.«

An der neuen Geschwätzigkeit der aktuellen Historiografie moniert Klüger dagegen das, was sie am eigenen Leib und vor allem in Deutsch­land immer wieder erfahren musste: Die der oral history zupass kommende Stilisierung der wenigen verbliebenen Überlebenden als »Märtyrer«, die sich in der Folge verschiedensten philosemitischen oder auch idiosynkratischen Projektionen ausgesetzt sehen, was zu einem öffentlichen Interesse führt, das Klüger im Spannungsfeld zwischen Abscheu und Ehrfurcht lokalisiert. »Sterbende werden so behandelt, Krebskranke und Krüppel, nämlich mit einer Distanz, die sowohl negative wie positive Vorzeichen zulässt.«

In solchen Überlegungen spiegelt sich Klügers Bewusstsein, dass sich mit wechselnden öffentlichen Kontextualisierungen nicht nur die Bedeutung von kanonischen Texten wie Friedrich Schillers dramatischer Geschichtsklitterung in der »Jungfrau von Orleans« ändern können, sondern eben auch die Sicht auf die Judenvernichtung, wie sie etwa in Peter Weiss’ »Ermittlung«, in Steven Spielbergs »Schindlers Liste«, in Claude Lanzmanns »Shoah« und nicht zuletzt in den Aussagen der Überlebenden selbst thematisiert wird. Klüger betont ihre Ablehnung vor allem der Video-Inszenierungen von Opfer-Aussagen, wie sie im beliebten oral history-Infotainment Gegenstand oft zweifelhafter Instrumentalisierungen werden. Das »echte Pathos eines Zeugenberichts« kann, wie Klüger kritisch beobachtet, »in einer grauen Kommentar-Brühe aus Pseudowissenschaftlichkeit und Sentimentalität« schließlich selbst »zum Kitsch verkommen«.

Klügers wacher Blick auf diese Medienphänomene ist bedeutsam im Zeitalter Guido Knoppscher Verdummungsinszenierungen von Geschichte. Ihr Buch ist außerdem als Mahnung lesbar, die historischen Tatsachen niemals mit ihrer changierenden Deutung zu verwechseln: Im wüsten Kontextualisieren verbürgter Geschehnisse der Shoah mit allem Möglichen könne es vorkommen, »dass das arme Faktum schließlich bis zur Unkenntlichkeit zerfasert« werde und »wie ein aufgetrennter Pullover vor uns liegt, der darauf wartet, dass ein weiterer Begutachter ihn vielleicht wieder zusammenstrickt, um womöglich ganz etwas anderes, zum Beispiel mehrere Paar Socken daraus zu fabrizieren«, schreibt Klüger.

Mit anderen Worten: Es können sich solche his­to­rischen Interpreten, die sich im öffentlichen Ansehen als die guten Sachwalter der Wahrheit präsentieren, ganz schnell als diejenigen entpuppen, deren Inszenierungen der Lüge und dem Kitsch näher sind, als sie glauben. Gerade im Land der »Dichter und Denker«.

 

Ruth Klüger: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Wallstein-Verlag, Göttingen 2006. 220 Seiten, 22 Euro