»Viele führen ein Doppelleben«

Deniz Yücel

Einwanderer aus muslimischen Ländern stehen im Verdacht, besonders intolerant gegenüber Homosexualität zu sein, insbesondere, wenn es um ihre eigenen Kinder geht. Doch was ist wahr daran? Haben es schwule Türken oder lesbische Araberinnen wirklich schwerer? Oder sind das nur Vorurteile, die auch bei den Betroffenen selbst existieren?

Deniz Yücel arbeitet ehrenamtlich in der Online-Beratung von »Anyway«, dem Kölner »Jugendzentrum für Lesben, Schwule und FreundInnen«. Für sein Engagement wurde der 19jährige Schüler kürzlich zusammen mit Franz Müntefering mit der »Kompassnadel« des Schwulen Netzwerks Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet.

Mit Deniz Yücel sprach Deniz Yücel.

Wie oft hast du den Satz schon gehört: »Ey, was geht, bist du schwul oder was?«

Selten, zwei, drei Mal vielleicht. Das waren irgendwelche Halbstarke, die glaubten, mich damit beleidigen zu können. Aber wenn man ihnen zeigt, dass man sich nicht beleidigen lässt, geben sie es schnell auf.

Kannst du etwas über deine Arbeit in der Jugendberatung erzählen?

Ich arbeite in einem Team, das über das Internet junge Schwule und Lesben berät. Nicht dass ich nur Einwandererkinder beraten würde, aber da ich aus dem türkisch-islamischen Kulturkreis stamme, kümmere ich mich häufig um Anfragen von Leuten mit Migrationshintergrund. Wenn sie auf jemanden treffen, der einen ähnlichen Hintergrund hat wie sie selbst, der ihre Probleme vielleicht besser versteht, weil er sie aus der eigenen Erfahrung kennt, bringen sie ein größeres Vertrauen auf. Für viele bin ich ein Vorbild, das zeigt, dass es geht.

Mit welchen Fragen hast du es zu tun?

Oft geht es um Coming-Out-Probleme, also Fragen wie: »Bin ich schwul? Ich bin schwul, was mache ich jetzt? Wie sage ich es meinen Eltern? Wie sage ich es meinen Freunden? Ich bin verliebt in meinen besten Freund, was soll ich tun?« Einwandererkinder fragen darüber hinaus: »Ich bin Türke, ich bin Pole, meine Eltern sind konservativ, die würden das nicht verkraften, was soll ich machen?« Andere Fragen kreisen um Sexualität, Beziehungsprobleme oder HIV und andere Geschlechtskrankheiten.

Haben es junge Schwule aus Einwandererfamilien schwerer als ihre deutschen Altersgenossen?

Einfach ist es für niemanden. Auch ein junger Deutscher muss erst mal mit sich selbst ins Reine kommen, muss sich outen und sich mit den Reaktionen auseinandersetzen. Dennoch haben es Leute aus muslimischen oder auch erzkatholischen Familien in mancher Hinsicht schwerer, weil sie häufig gegen stärkere Widerstände und Abneigungen ankämpfen müssen. Viele sagen sich: »Oh Gott, mein Vater ist Muslim, mein Vater ist Türke, wenn ich sage, dass ich schwul bin, werde ich verstoßen.« Allerdings glaube ich auch, dass viele das Problem unnötig vergrößern.

Und die Dinge ändern sich allmählich. In Istanbul zum Beispiel gibt es eine blühende schwule Szene, während die Gesamtgesellschaft heute an einem Punkt ist, an dem Deutschland vor vierzig Jahren war. Ich denke, dass in einigen streng katholischen Ländern die Lage schwieriger ist.

Dennoch gibt es vergleichsweise wenige deutsch-türkische Schwule oder Lesben, die ihre sexuelle Orientierung so offen ausleben, dass sie auch ihre Familien einweihen.

Es stimmt, dass sich viele darin eingerichtet haben, ein Doppelleben zu führen. Allerdings gibt es genug türkische Eltern, die die Homosexualität ihrer Kinder tolerieren. Nur spricht niemand von ihnen.

Wie war es bei dir?

Ich hatte mit 16 mein Coming-Out, wobei meine Freunde es schon vorher wussten. Ich hatte mich mehreren Leuten anvertraut, dieser Kreis wuchs stetig, manche erzählten es weiter, so dass ich irgendwann den Überblick verlor. Nur mein ­Vater – seit meiner Kindheit lebe ich bei ihm, zu meiner Mutter habe ich keinen Kontakt – wusste es nicht.

Ich hatte große Angst, richtige psychische Probleme. Ich dachte, mein Vater würde einen schwulen Sohn niemals akzeptieren, ich habe mit allem möglichen gerechnet, etwa damit, dass er mich rauswirft. Erst hinterher habe ich gesehen, dass ich mir diese Sorgen gar nicht hätte machen müssen. Denn seine Reaktion war völlig überraschend. Er sagte: »Mach dir keine Sorgen, gib mir Zeit, um damit klarzukommen, und wir werden das zusammen meistern.« Und das waren keine leeren Versprechen, er hat es wirklich getan. Heute bin ich sehr stolz auf ihn, weil er vorbildlich mit der Situation umgegangen ist.

Meine Ängste waren allein ein Produkt meiner aberwitzigen Vorstellung, dass türkisch und schwul sich nicht miteinander vereinbaren lassen und man als türkischer Schwuler nicht glücklich werden kann. Ich habe nicht daran gedacht, dass meinem Vater die Liebe zu seinem Kind wichtiger sein könnte als alles andere.

War er bei dem Empfang anwesend, bei dem du ausgezeichnet wurdest?

Natürlich, er kam mit seiner Freundin und seiner Schwester. Er war unglaublich stolz, bei meiner Dankesrede hat er geweint. Und am nächsten Tag hat er sich mit seiner Freundin auf der Kölner Parade zum Christopher Street Day großartig amüsiert.

In Baden-Württemberg gibt es einen Einbürgerungstest, der unter anderem danach fragt, was die Bewerber über Homosexualität denken. Sollte die Frage ein Kriterium für Einbürgerungen sein?

Diese Frage ist berechtigt. Denn sich mit Homosexualität zu beschäftigen, bedeutet, sich mit einer Minderheit zu beschäftigen. Und wie fortschrittlich eine Gesellschaft ist, bemisst sich nicht zuletzt daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht, ob sie sie akzeptiert und toleriert oder nicht. Das gilt für Einwanderer ebenso wie für sexuelle Minderheiten. Wer also Mitglied einer Gesellschaft werden möchte, die einen gewissen Grad an Toleranz gegenüber ihren Minderheiten erreicht hat, sollte beweisen, dass er den Anforderungen dieser Gesellschaft gewachsen ist.

Niemand muss vor Freude tanzen, weil sein Sohn schwul oder seine Tochter lesbisch ist. Aber er sollte dazu bereit sein, es zu akzeptieren. Darüber, in welchem Maße dieser Punkt über eine Einbürgerung entscheiden sollte, kann ich jedoch nichts sagen.

Allein dieser Einbürgerungstest, der immerhin von einer CDU-Landesregierung entwickelt wurde, zeigt, dass die deutsche Gesellschaft zu beanspruchen scheint, alle Ressentiments gegen Homosexuelle überwunden zu haben. Ist das so?

Auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten vieles zum Besseren gewendet hat – und zwar nicht durch das Wohlwollen der Politiker, sondern durch die Emanzipation der Schwulen und Lesben selbst –, ist längst nicht alles in Ordnung. Zum Beispiel haben wir in Nord­rhein-Westfalen derzeit das Problem, dass durch die geplanten Haushaltskürzungen die schwul-lesbische Minderheit einen unverhältnismäßig hohen Beitrag zur Konsolidierung leisten soll, was sie in der Konsequenz um ihre über Generationen aufgebauten Selbsthilfestrukturen bringen würde. Das Argument lautet, dass Schwule und Lesben keine Probleme mehr hätten.

Aber so lange ich in meiner Beratung so viele Jugendliche erlebe, die von Ängsten, Diskriminierung und Intoleranz berichten, hat Deutschland keine Veranlassung, sich einzubilden, dass Homosexuelle gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft seien.

Du fotografierst gerne.

Ja, vor allem Porträts, die ich in der Natur, auf verlassenen Fabrikgeländen oder anderen Orten fotografiere. Ich war nie ein handwerklicher Typ oder ein Haudegen, sondern habe mich immer für gestalterische Dinge interessiert und produziere etwas für die Sinne.