»Immer noch halten viele Selbstjustiz für richtig«

Adem Sözuer

Wer in der Türkei von geheimen Organisationen spricht, denkt zuerst an staatliche Stellen. Teile des Militärs, des Geheimdienstes und der Polizei beanspruchen, zum »Wohle des Staates« auch zu illegalen Mitteln greifen zu dürfen. Das trägt dazu bei, dass sich immer wieder Privatpersonen oder Organisationen dazu berufen sehen, ebenfalls zur Tat zu schreiten.

Wie zum Beispiel Alparslan Arslan. Im Mai erschoss er, fast einer Vorlage aus Orhan Pamuks Roman »Schnee« folgend, einen Richter des Obersten Verwaltungsgerichts und verletzte vier weitere Menschen, weil er glaubte, im Namen des Laizismus würden die »Werte« der Türkei verletzt. Nun steht er in Ankara vor Gericht. Über dieses Phänomen sprach Sabine Küper-Büsch mit Adem Sözuer, Professor für Strafrecht an der Universität Istanbul.

Als kürzlich die Verhandlung gegen den Rechts­anwalt Alparslan Arslan eröffnet wurde, kam es zu einem Fluchtversuch des Angeklagten, weil er unbedingt am Freitags­gebet teilnehmen wollte. Ist er ein islamistischer Fanatiker oder ein armer Irrer?

Sein Geisteszustand wird gerade gerichtsmedizinisch untersucht. Als normal ist sein Auftreten vor Gericht aber sicher nicht zu be­zeichnen. Ich kenne ihn noch als Studenten der Universität Istanbul. Dort gehörte er nicht zu im engeren Sinn islamistischen Kreisen, sondern zur Großen Einheitspartei (BBP), einer Abspaltung der ebenfalls extremistischen Partei der Nationalistischen Bewe­gung (MHP). Diese verbindet einen aggressi­ven Nationalismus mit einer konservativen Religiosität. Gleichzeitig sind sie Verschwörungstheoretiker. Arslan plauderte im Gericht ja aus, dass er die Absicht hatte, einen Anschlag auf den Industriellen Bülent Eczacibasi zu verüben, weil dieser Jude sei. Auch auf den prominenten Journalisten Mehmet Ali Birand hatte er es abgesehen, weil dieser ihm zuwiderlaufende politische Ansichten hat.

Bekämpft jemand wie Arslan den Staat oder handelt er in dessen Namen, gar in dessen Auftrag?

Leute wie er sind der Meinung, dass der Staat nicht genug dafür tue, um das Land und seine Werte oder das, was sie dafür halten, zu schüt­zen. Zuvor hatte er einen Bombenanschlag auf die kemalistische und antiislamistische Zeitung Cumhuriyet verübt, weil diese in einer Karikatur das Urteil des Obersten Verwal­tungsgerichts begrüßt hatte, das einer Lehre­rin untersagt hatte, auf dem Weg zur Schule ein Kopftuch zu tragen. Daraufhin warf Arslan einen Sprengsatz in das Foyer des Gebäu­des der Zeitung, allerdings nachts, so dass niemand verletzt wurde. Als das nicht genügend Aufmerksamkeit erregte, ging er mit einer Waffe auf die Richter los.

Es ist viel über die Verantwortlichen spekuliert worden. Gibt es Leute, die labile Personen wie Arslan instrumentalisieren?

Das hat in der Türkei leider Tradition. Den­ken Sie an Dinge, die nach dem Unfall von Susurluk im Jahr 1996 ans Tageslicht kamen: ein Regierungspolitiker und ein Polizeichef an der Seite des eigentlich polizei­lich gesuchten Mörders Abdullah Çatli. Der stammte aus einem ähnlichen politischen Umfeld wie Arslan. Unter der Fahne des Patriotismus begingen Jugendliche aus die­sem Spektrum in den siebziger Jahren Mor­de, die manche Leute im Staat guthießen. Sie duldeten diese Taten, weil sie zu einer Atmosphäre der Angst beitrugen, die wie­derum einen starken Staat als erforderlich scheinen ließ.

Ein spektakulärer Fall dieser Zeit war der Mord an dem Journalisten Abdi Ipekçi im Februar 1979. Geschossen hat damals wohl der ebenfalls psychisch labile Mehmet Ali Agca, doch den Mord organisiert hatte, nach allem, was bekannt ist, Çatli, der auch das Fluchtauto fuhr. Agca kam ins Gefängnis, konnte aber mit Çatlis Hilfe ins Ausland fliehen, wo er das Attentat auf den Papst ver­übte. Bis heute weiß niemand, wer wirklich für diese Taten verantwortlich war. Vielleicht gab es keine Hintermänner. Vielleicht aber auch nicht.

Manche betrachten Çatli als Helden.

Es war fatal, als in den neunziger Jahren Kriminelle wie Çatli im Namen der so genannten Terrorismusbekämpfung heimlich rehabilitiert wurden, von den Behörden neue Pässe erhielten und wieder politische Morde begehen konnten.

Und hier liegt das Problem: Es waren nicht die Gesetze in der Türkei, die europä­ischen Standards zuwiderliefen. Das Problem war vielmehr, dass sie in einer spezifischen, für Europa unverständlichen Weise angewandt wurden. Heute wird dieser Weg allgemein als falsch angesehen. Zugleich gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft Relikte, die diese Politik der Selbstjustiz für richtig halten.

Was bedeutet das für den Fall Arslan?

Vielleicht wurde auch er von außen ge­lenkt. So gibt es einen Kontakt zu einem Haupt­mann, der sich seit Jahrzehnten im Umkreis von Geheimdienst und geheimen Organisationen bewegt. Die Ermittlungen der Polizei haben allerdings ergeben, dass Arslan in den drei Wochen vor dem Anschlag keinen Kon­takt zu diesem Offizier hatte. Vor Gericht hat er bekräftigt, allein gehandelt zu haben. Ich halte das nicht für völlig abwegig. Aber das politische Umfeld ebnet den Weg zu Kamikaze-Aktionen solch desorientierter Menschen.

Welche Rolle spielt das Antiterrorgesetz, das gerade in Kraft getreten ist? Bestätigt das nicht diejenigen, die glauben, die Türkei laufe Gefahr, von terroristischen Aktivitäten überrollt zu werden?

Dieses Gesetz ist nicht außergewöhnlich, sondern mit Gesetzen zur Terrorbekämpfung vergleichbar, die in Europa oder den USA nach dem 11. September erlassen wurden. Dennoch finde ich das türkische Gesetz falsch, weil es bestimmte Straftaten sofort in einen poli­tischen Zusammenhang stellt, obwohl das herkömmliche Strafrecht genügend Mittel bereithält, um Mord, Totschlag und Brandstiftung zu verfolgen. Doch in der Türkei betrachten viele eine Orga­nisation wie die PKK als inneren Feind und befürworten es, wenn der Staat mit Härte gegen sie vorgeht. Und immer wie­der fühlen sich militante extreme Rechte dazu berufen, selbst tätig zu wer­den. Andererseits gibt es viele Menschen, die damit nichts zu tun haben und die trotzdem die PKK als bedrohlich empfinden.

Auf der Grundlage des Anti-Terror-Gesetzes werden derzeit, nach Ausschrei­tungen in Diyarbakir im März, bei denen zehn Demonstranten starben, 91 Kinder angeklagt, PKK-Mitglieder zu sein.

Im Südosten benutzt die PKK leider immer wieder Kinder und Jugendliche. Bei den Ereignissen in Diyarbakir wurden Steine auf Gebäude und die Polizei geworfen. Die Leute plünderten Geschäfte und zündeten Autos an. Früher wurden solche Aktionen überhaupt nicht strafrechtlich geahndet. Aber nach diesen Er­eignissen gab es eine große Empörung in der Bevölkerung. Die Leute fragten sich: Demokratisierung schön und gut, aber wo bleibt unsere Sicherheit? Ich glaube nicht, dass die Jugendlichen hohe Strafen bekommen. Das Anti-Terror-Ge­setz bestimmt nur, dass sie in solchen Fällen nicht mehr vom Jugendstrafrecht profitieren, sondern mit Erwachsenen angeklagt werden.

Halten Sie das für richtig?

Ich würde mir als Jurist wünschen, dass die Türkei mehr Kapazitäten im Jugendstrafvollzug hätte. Die hat sie aber nicht. Meistens werden Jugendliche gar nicht verurteilt, sondern freigelassen, weil man nicht weiß, wohin man sie tun soll. Doch auch das Anti-Terror-Gesetz sieht Sonderbestimmungen für Jugendliche vor, die ihnen zugute kommen könnten. Als gefährlicher als diesen Prozess empfinde ich seine Auswirkungen auf die politische Stimmung. Die sozialdemokratische Opposition vertritt derzeit einen politischen Nationalismus, der dem der MHP ähnelt und sich gegen die an der EU orientierten Reformen richtet. Und das nur, weil die Regierungspartei diese Reformen unterstützt. Eine paradoxe Situation.