Nur die Sprache bleibt

Die Goranci leben halbvergessen im Südwesten des Kosovo. Durch den Krieg wurde ihre Lebensgrundlage zerstört. Einer möglichen Unabhängigkeit des Kosovo stehen viele skeptisch gegenüber. text und fotos: thomas schmidinger

Bisera Demiri kündigt ein Lied an, das sich eine Frau aus dem Dorf Backa gewünscht hat. Die junge Radioredakteurin spricht nicht Albanisch, sondern eine Sprache, die sie später als »unsere Sprache« bezeichnen wird. Diese wird im äußersten Südwesten des Kosovo von den Goranci gesprochen. Radio Sharri, der Sender, für den sie arbeitet, sendet sowohl in der Sprache der Goranci als auch auf Albanisch. Je nachdem, wer sich gerade ein Lied wünscht. »Die Nachrichten werden abwechselnd in Goranisch und Albanisch vorgetragen«, sagt Demiri. Ihr Kollege Muso Maslar erzählt, dass sich im Sommer die beiden Sprachen in den Sendungen fast die Waage halten würden: »Im Winter verwenden wir aber vielleicht 70 Prozent Albanisch, denn viele Goranci sind nur über den Sommer da, und wir wollen auch im Winter gehört werden.« In dieser Jahreszeit arbeiten viele Goranci in anderen Ländern, denen es wirtschaftlich nicht so miserabel geht, beispielsweise in Italien oder Deutschland, aber auch in Mazedonien. Im Sommer kommen sie dann wieder zurück zu ihren an Ort und Stelle gebliebenen Verwandten und Freunden, um zu feiern und auszuspannen.

Die Goranci sind sich selbst nicht so ganz einig, wie ihre slawische Sprache zu definieren ist. Wegen der türkischen und einigen albanischen Wörtern wird sie gelegentlich als serbischer, bosnischer, mazedonischer oder bulgarischer Dialekt bezeichnet. In den fünfziger Jahren gaben noch viele Angehörige der muslimischen, aber slawischsprachigen Minderheit bei Volkszählungen an, Türkisch zu sprechen, eine Zuordnung, die mit der Schaffung der Kategorie der »ethnischen Muslime«, der »Muslimani«, fast völlig verschwand. Während sich sämtliche Nachbarn um die Goranci streiten, sprechen sie selbst fast ausschließlich von »unserer Sprache« oder »unseren Leuten«.

Radio Sharri muss sich selbst finanzieren. Die anfängliche Unterstützung durch internationale NGO und die in der Region stationierte deutsche Kfor ist mittlerweile Geschichte. »Jetzt leben wir von Werbung und Liedwünschen, die die Leute dann bezahlen«, berichtet Maslar.

Die Großgemeinde Dragash, südlich von Prizren in den albanisch-mazedonischen Grenzgebirgen des Kosovo, zählt zu den am stärksten von Abwanderung betroffenen Regionen des Landes. Von über 17 000 Goranci, die vor dem Krieg die südlichen Dörfern der Großgemeinde und die Stadt selbst besiedelt hatten, leben heute nur noch rund 8 000 Personen hier. Gab es vor dem Krieg im Jahr 1999 noch 120 000 Schafe in der Region, so sind es jetzt gerade mal 5 000, die von den Goranci, die früher mehr­heitlich als Bauern und Hirten lebten, gezüchtet werden. Auch eine Textilfabrik, die bis zum Krieg 1 000 Arbeitskräfte beschäftigt hatte, steht seit über sieben Jahren still.

Entsprechend verzweifelt ist Sabidin Cufta, der Vizebürgermeister der Gemeinde: »Das Land ist jetzt leer. Niemand hat die Landwirtschaft wieder aufgenommen, da die Situation einfach viel zu unsicher ist. Erst letzte Woche kamen Räuber aus Albanien über die Grenze und stahlen in einem der Dörfer die Tiere. So will niemand hier wieder etwas aufbauen.« Cufta kennt auch die Situation auf der albanischen Seite der Grenze gut. Er ist Mitglied einer Kontaktgruppe zwischen goranischen Dörfern im Kosovo, in Albanien und Mazedonien. In Albanien selbst gibt es nur neun Dörfer in der Grenzregion, in der ebenfalls Goranci leben. Die Mehrheit lebt auf kosovarischem Gebiet: »Die Goranci in Albanien hatten noch viel länger unter starkem Assimilationsdruck zu leiden. Wir hoffen, dass wir hier keine ähnliche Entwicklung erleben und in Zukunft über die Grenzen hinweg zusammenarbeiten können.«

Cuftas Partei Vakat – benannt nach eine aus dem Türkischen stammenden Begriff für »Zeit« – bemüht sich um ein gutes Einvernehmen zwischen Minderheits- und Mehrheitsbevölkerung: »Wir erkennen die Institutionen des Kosovo an und sind auch nicht gegen eine Unabhängigkeit des Kosovo. Im Gegenteil: Wenn die Minderheitenrechte garantiert werden, sind wir begeisterte Befürworter der Unabhängigkeit.«

Aber ob dies auch nach einem Abzug der internationalen Truppen möglich ist, da ist sich der Vizebürgermeister der Großgemeinde, die von einem albanischen Bürgermeister regiert wird, nicht so sicher. Schließlich leiden die Goranci im Kosovo nicht nur unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Seit dem Jahr 1999 wurden 52 Anschläge von albanischen Nationalisten auf Goranci verübt. Der letzte Anschlag war gegen Rushtem Agushi gerichtet, einen ehemaligen Polizisten, der von Serbien in das Kosovo zurückgekehrt war. Nachdem eine Bombe in seinem Haus explodiert war, verließ er das Kosovo ein zweites Mal.

So zeichnet denn auch Alija Abdi, der Vorsitzende der Parteikonferenz der Gradanska Inicijativa Gore (Bürgerinitiative Gora, Gig), ein wesentlich düstereres Bild der Situation der Minderheit als die Konkurrenz von Vakat: »Die Institutionen des Kosovo funktionieren überhaupt nicht. Die Polizei hat noch keinen einzigen der Täter geschnappt. Kein einziger Anschlag auf einen von uns wurde jemals aufgeklärt. Ich sage ja nicht, dass alle diese Gewalttaten ethnisch motivierte Taten gegen uns Goranci sind, aber es fällt auf, dass einfach noch nie etwas unternommen wurde, um diese Gewalt effektiv einzudämmen.«

Der junge Politiker wirkt aufgebracht, wenn er Beispiele für derartige Übergriffe aufzählt: »Am 2. Dezember 2005 wurde ein ganzer Reisebus angegriffen. Niemand hat bis jetzt versucht, diese Gewalttat aufzuklären.« Über die Statusverhandlungen will Abdi nichts sagen: »Wir sind nur eine kleine Minderheit und werden jede Entscheidung akzeptieren müssen. Ich kann und will dazu nichts sagen, außer, dass wir die Institutionen des Kosovo respektieren und auch weiter respektieren werden.«

Während die Partei Vakat versucht, mit den kosovo-albanischen Parteien Einvernehmen herzustellen, versucht die Bürgerinitiative Gig, die etwas weniger Menschen repräsentiert, stärker auf Minderheitenrechte zu pochen. Nun lässt Gig mit der Forderung aufhorchen, im Rahmen einer Dezentralisierung des Kosovo solle eine eigene Großgemeinde, Gora, für die Goranci eingerichtet werden. Damit würde Dragash in einen fast ausschließlich von Albanern besiedelten Nordteil und einen fast ausschließlich von Goranci besiedelten Südteil getrennt werden.

Bisher wird in den von Vakat regierten Dörfern nach kosovo-albanischem Lehrplan, in Dörfern mit Gig-Dominanz nach serbischem Lehrplan unterrichtet. Wohl mit ein Grund, weshalb Sabidin Cufta der Bürgerinitiative vorwirft, »proserbisch« zu sein: »Selbst die Lehrer in diesen Dörfern werden von Serbien bezahlt und bekommen damit ein wesentlich höheres Gehalt als unsere Lehrer.« Den Vorwurf will Alija Abdi jedoch nicht auf sich sitzen lassen: »Das ist eine Verleumdung. Wir sind nicht proserbisch, sondern treten einfach nur für die Interessen von Gora ein!«

Tatsächlich setzt Vakat zurzeit auf eine »bosnische« Identität für die Goranci, während die Gig auf einer goranischen Identität beharrt. Mit ethnischer Identität gehen die Goranci traditionell flexibler um als ihre Nachbarn, denn nur so konnten sie in der Vergangenheit als kleine Minderheit überleben.

Der Alltag des Zusammenlebens scheint hier in Dragash jedoch besser zu funktionieren als anderswo im Kosovo. Im lokalen Plattenladen, der einem Albaner gehört, werden CDs und Musikkassetten mit albanischer, goranischer und serbischer Musik verkauft. Goranci und Albaner decken sich hier gleichermaßen mit Musik ein.

In den Dörfern südlich von Dragash merkt man wenig von ethnischen Spannungen, sehr viel hingegen von der ökonomischen Misere. Über schlechte Straßen mit unzähligen Schlaglöchern erreicht man Restelica, das größte der Dörfer im Gora-Gebiet. Unzählige Neubauten machen den Eindruck, die Bevölkerung würde wachsen und nicht abwandern. Das genaue Gegenteil ist jedoch der Fall.

Ein Rückkehrer aus Deutschland erklärt mir die Entwicklung: »Diese ganzen Neubauten werden von denen gebaut, die während des Jahres in Italien oder Deutschland arbeiten. Der ganze Ort lebt im Sommer auf, wenn alle für kurze Zeit herkommen um zu heiraten und einige Wochen hier bei Verwandten und Freunden zu verbringen. Im Winter ist der ganze Ort wie ausgestorben.« Und tatsächlich, bei einem Spaziergang begegnet mir schon der erste Hochzeitszug. Wenn der Sommer vorbei ist, beherbergen die Dörfer nur noch einige alte Leute.

So auch das mitten in den Bergen gelegene Brod. Die meisten Männer arbeiten in Mazedonien und sind ebenfalls nur während des Sommers einige Zeit hier. Bereits im ehemaligen Jugoslawien hatten viele Goranci ihre Bergdörfer verlassen und sich in den Städten des Kosovo, Serbiens, aber auch anderer Teilrepubliken niedergelassen. Besonders bekannt wurden sie wegen der guten Konditoreien, die viele von ihnen führten. Die sich im Kosovo niedergelassen hatten, wurden nach 1999 jedoch zum Hauptziel ethnischer Gewalt. Während die Goranci, die in den Bergdörfern verblieben waren, weitgehend unbeachtet unter sich blieben, waren ihre städtischen Familienangehörigen der nationalistischen Gewalt albanischer UCK-Anhängerinnen und

-Anhänger wehrlos ausgeliefert. Viele von ihnen wurden noch in den Monaten nach dem Einmarsch der Kfor ermordet. Die anderen Goranci flüchteten größtenteils nach Serbien.

Im Gegensatz zu den Kosovo-Serben wurden sie dort jedoch wegen ihrer islamischen Religionszugehörigkeit nicht mit offenen Armen empfangen. Auch Zinaida Kuci Gruda, der Leiter des kosovo-albanischen »Council for the Defence of Human Rights and Freedoms« kennt die prekäre Situation der kleinen Minderheiten: »Während die Weltöffentlichkeit nur über das Schicksal der Serben im Kosovo diskutiert, beachtet niemand die Situation der Roma, Ashkali oder Goranci.« Auch wenn Gruda möglicherweise der fatalen Situation der Serben im Kosovo zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, so hat er doch Recht, wenn er meint, dass die kleinen Minderheiten im Gegensatz zu den Serben überhaupt keine Lobby und nun auch keine Stimme bei den Statusverhandlungen hätten.

Hunderte Goranci suchten deshalb im Westen Zuflucht und kamen als Asylbewerber nach Italien, Deutschland und Österreich. Ob sie dort eine dauerhafte Bleibe finden können, hängt jedoch nicht nur von der Situation im Kosovo, sondern auch von der weiteren Entwicklung in diesen Ländern ab. Wenn die Asylgesetze weiter verschärft werden, sitzen die Goranci sehr schnell abgeschoben in ihrer »Heimat«.