Silvio, wo bist du?

Gewerkschaften und soziale Bewegungen protestieren gegen die Mitte- Links-Regierung. Oder vielleicht auch nicht. von federica matteoni

Es gibt Sachen, die viel einfacher waren, als Silvio Berlusconi noch Premierminister war. Immer wenn seine Mitte-Rechts-Koalition einen Haushaltsentwurf dem Parlament zur Abstimmung vorlegte, gab es Gründe, um gegen seine Regierung zu demonstrieren. Kritisiert wurde von der Opposition im Parlament und von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auf den Straßen die »neoliberale Substanz« dieser Gesetze; das bedeutete beispielsweise eine Steuerpolitik zur Begünstigung von Besserverdienenden, Sparmaßnahmen im Sozialwesen oder im Bildungsbereich, Finanzierung von Militärmissionen.

Die parlamentarische Debatte der vergangenen Wochen über den ersten »linken« Haushaltsentwurf nach fünf Jahren war nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition. Während die Mitte-Rechts-Parteien die geplanten Steuer­erhöhungen bei Jahreseinkommen ab 75 000 Euro als »Enteignung der Mittelklasse« bezeichneten, kritisierte der radikalere Flügel der Koalition von Romano Prodi den Entwurf, weil er – genau wie unter der Regierung Berlusconi – massive Kürzungen der öffentlichen Ausgaben vorsieht und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse nicht »radikal genug« bekämpfe. Aus denselben Gründen kam auch von den Basisgewerkschaften und sozialen Bewegungen heftige Kritik.

Als einige globalisierungskritische Gruppen und das neu gegründete Netzwerk »Stop Prekarisierung jetzt!« zu einer Demonstration gegen prekäre Arbeit in Rom aufriefen, gingen am 4. November ca. 200 000 Menschen auf die Straße. Zahlreiche Mitglieder der Regierungskoalition aus den Parteien, die sich traditionell gerne als »bewegungsnah« präsentieren, vor allem Grüne und Ex-Kommunisten, aber auch einige linksdemokratische Abgeordnete waren dabei. Der größte italienische Gewerkschaftsbund CGIL, der im Jahr 2003 Millionen von Menschen gegen Berlusconi auf die Straße brachte, hielt sich dagegen mit Kritik zurück.

Die Debatte, die sich nach der für italienische Verhältnisse relativ kleinen Demonstration entfaltete, kann möglicherweise etwas über die Zukunft der sozialen Kämpfe in Italien verraten. Selten gingen nach einer Demonstration die Meinungen so auseinander hinsichtlich einer eigentlich sehr einfachen Frage: Gegen was oder wen wurde protestiert? Das Problem dabei ist, dass diese Debatte hauptsächlich in der linken Presse geführt wurde, und diese besteht in Italien bekanntlich vor allem aus zwei Tageszeitungen: il manifesto, die zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Koalition von Prodi steht, jedoch zu selten Kritik wagt, und Liberazione, die der Regierungspartei Rifondazione Comunista gehört.

In den beiden Zeitungen konnte man bereits vor der Demonstration lesen, dass sie »genau in dieser Form auch unter der Regierung Berlusconi hätte stattfinden können« (il manifesto) und dass sie, gerade aus diesem Grund, einen wichtigen Termin darstelle. Denn sie sei als eine »Chance« für die Mitte-Links-Regierung zu betrachten, als eine »positive Anregung«. Der »konstruktive Sinn« der Demonstration habe darin bestanden, die Regierenden darauf hinzuweisen, dass eine Reform des Arbeitsmarktgesetzes dringend notwendig sei.

Deshalb sahen zahlreiche Mitglieder der Regierungskoalition in ihrer Teilnahme an der Demonstration keinen Widerspruch zu ihrer Beteiligung an der Regierung. Schließlich wurde gegen ein Gesetz demons­triert, das die anderen gemacht hatten.

Durch die so genannte Biagi-Reform – benannt nach dem 2003 von den Neuen Roten Brigaden ermordeten Arbeitsrechtler Marco Biagi – wurde der italienische Arbeitsmarkt mit der Einführung neuer Arbeitsverträge extrem flexibilisiert. Aktuellen Statistiken zufolge sind in Italien derzeit ca. 2,5 Millionen Menschen prekär beschäftigt. Das bedeutet etwa, dass sie befristete, projektgebundene Arbeitsverträge haben. Das ist der Fall insbesondere im Bildungs- und Forschungsbereich. Eine weitere Folge der durch die Biagi-Reform eingeführten Flexibilisierung ist es, dass immer mehr Unternehmen nur noch »freie Mitarbeiter« ohne Arbeitsverträge beschäftigen.

Diejenigen, die der Meinung sind, dass die Biagi-Reform »nicht reformierbar« sei, sondern abgeschafft gehöre, boykottierten die Demonstration am 4. November. Das sind die Basisgewerkschaften und die radikaleren Flügel der globalisierungskritischen Bewegung, insbesondere das Netzwerk der Disobbedienti. Sie hatten zu einem »Generalstreik« aufgerufen, an dem sich am Freitag vor allem Studenten, Forscher, Hochschullehrer und Universitätsmitarbeiter beteiligten. Obwohl sie alle gegen die vom Haushaltsgesetz vorgesehenen Kürzungen in Universitäten und Forschungseinrichtungen in Höhe von ca. 200 Millionen Euro de­mons­trier­ten, wollte die CGIL die Straße nicht den »Regierungsgegnern« überlassen. Deshalb rief sie am selben Tag auch, gemeinsam mit den beiden anderen großen Gewerkschaften CISL und UIL, zu einem »Aktionstag im Bildungsbereich« auf. Insgesamt nahmen in ganz Italien ca. 300 000 Menschen an den Protesten teil.

Während der radikalere Teil der Demons­tranten am Freitag mit »französischen Verhältnissen« drohte und sich auf die Proteste der französischen Studenten und prekär Beschäftigte im Frühling bezog, betonten die »konstruktiven Kritiker« die Kontinuität der von Prodi geplanten Sparmaßnahmen im Bildungswesen und der im vergangenen Jahr von der Regierung Berlusconi verabschiedeten Hochschulreform. Durch die extreme Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse im Bildungswesen strebe die Reform eine Öffnung dieses Sektors gegenüber der Wirtschaft an.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch die anstehenden Proteste von Migranten sich wieder hauptsächlich gegen Berlusconi und die unter seiner Regierung verabschiedeten Gesetze richten werden. Falls die Linie der »konstruktiven Kritik« sich durchsetzen sollte, wäre das Konfliktpotenzial künftiger sozialer Proteste gleich null. Von wegen französische Verhältnisse. Es war einiges einfacher unter Berlusconi. Nicht nur die Polit-Talk-Shows scheinen ihn zu vermissen.