Verschwunden im Tunnel

Von Präsident Morales erhoffen sich die Indigenas in Bolivien das Ende ihrer Diskriminierung. astrid schäfers besuchte die Bewohner der Sonneninsel im Titicacasee

Dies ist der Ort, wo die Sonne der Erde am nächsten ist«, sagen die Aymara, die indigenen Bewohner der Insel. Die Isla del Sol, die Sonneninsel, liegt auf 3 800 Meter Höhe im Titicacasee, an der Grenze zwischen Bolivien und Peru. Die Inkas veranstalteten hier ihr größtes und prachtvollstes Fest, das Intiraymi. Da sie glaubten, dass die Sonne sich mit der Zeit von der Erde entferne, brachten sie dem Sonnengott Inti Tiere zum Opfer und riefen ihn an, damit er sich ihnen annähere. Die Inkas versahen den Tempel mit Löchern an der Stelle, auf die die ersten Sonnenstrahlen treffen. Die Sonne sollte denen Energie spenden, die sich kraftlos fühlten.

Historiker bezweifeln, dass die Aymara tatsächlich Nachfahren der Inkas sind, die diese Region erst kurz vor der Ankunft der Spanier eroberten. Der Bezug auf die vorkoloniale Zivilisation und ihre Mythen ermöglicht es den Aymara jedoch, sich gegen rassistische Zuschreibungen zu wehren, die sie als kulturlose und ungebildete Eingeborene darstellen. Auch nach der Unabhängigkeit von Spanien blieb die Macht in den Händen einer weißen Wirtschafts- und Staatsoligarchie. Die Interessen der indigenen Bevölkerungsgruppen wurden vor der Wahl von Präsident Evo Morales immer übergangen.

Erst die Agrarreform im Jahr 1952 ermöglichte es, den Bewohnern der Sonneninsel, Land zu besitzen. »Sie verkauften die Pflanze Pereito, die auf der Insel wächst und aus der sich Dünger herstellen lässt, und sie erwarben kleine Landstücke«, erzählt Pablo Callisaya, ehemaliger Vorsitzender der Landarbeitergewerkschaft von Bolivien.

Das hügelige Land auf der Insel ist schwer zu bewirtschaften, der Ertrag des Kartoffel- oder Maisanbaus reicht gerade zum Überleben. Doch nicht alle Bewohner leben von der Landwirtschaft. Die bäuerlichen Aymara leben im Zentrum der Insel, das für Touristen unzugänglich ist. Die Touristen werden vom Süden der Insel direkt in den Norden gebracht, wo die Ruinen sind, meist per Schiff, wobei ihnen das Zentrum verborgen bleibt. Dessen Bewohner leben nach traditionellen Prinzipien der Aymara: »Amaduya, amakeya, amsua«, das heißt: »Du sollst nicht leichtfertig sein, du sollst nicht stehlen und du sollst nicht lügen.« Ein anderes Prinzip schreibt vor, dass der Erde zurückgegeben werden muss, was ihr genommen wurde. »Wenn jemand zum Beispiel Tiere auf einer Weide hält, muss er die Pflanzen, die das Vieh abgefressen hat, wieder anpflanzen«, erklärt Pablo.

Realität und Legenden vermischen sich bei den Inselbewohnern stark. Alvaro, unserer Wegführer, erzählt, dass vor kurzem ein Junge für zwei Monate in einem unter dem Titicacasee liegenden Tunnel verschwand und dann in Cuzco wieder auftauchte. Der Junge lief einem Schaf hinterher, das sich im Sonnentempel verirrt hatte. Während der zwei Monate, die er in der unterirdischen Stadt der Aymara verbrachte, soll er um Millionen Jahre gealtert sein. Nach seiner Rückkehr starb der Junge angeblich wegen des Tageslichts nach einer Woche. In der unterirdischen Stadt werde die Kultur der Aymaras bewahrt, glaubt Alvaro. »Das letzte Mal verirrten sich drei Japaner in dem Tunnel. Sie wurden seitdem nicht mehr gesehen, und der Zugang ist danach verschlossen worden«, erzählt er und schaut mir fest in die Augen.

Von der seit knapp einem Jahr amtierenden Regierung erhofft sich Alvaro ein Ende der Diskriminierung. »Der Wahlsieg von Evo Morales symbolisiert für uns, dass wir respektiert werden. Das bedeutet, dass unsere Sprache anerkannt wird. Wir verehren unsere Bipala, das ist unsere achtfarbige Fahne. Sie steht für die Aymara und die Quechua. Sie symbolisiert unsere Gesetze.« Indigene Politiker fordern, dass ihre Bevölkerungsgruppen in der neuen Verfassung als Kollektive anerkannt und mit bestimmten Rechten ausgestattet werden.

Die Bewohner des Südens der Insel allerdings leben nach etwas anderen Gesetzen. Sie haben sich auf den Tourismus spezialisiert. Sie sind Geschäftsleute und haben einen höheren Lebensstandard, können ihren Kindern teure Spielzeuge kaufen. Die Geschlechterrollen sind bei ihnen weniger traditionell. So kassiert zum Beispiel die Frau die Dollars der Touristen und hält sich nicht im Hintergrund, wie es in vielen traditionellen Familien üblich ist. Mariana Juasania, zuständig für Geschlechterfragen bei der Confederación de Pueblos Indigenas de Bolivia (Cidob), erklärt: »Die indigenen Frauen sind doppelt benachteiligt. Wir setzen uns für die Beteiligung der Frauen an der politischen Organisation unseres Lebens ein.«

Auf der Isla del Sol sind die Bedingungen für politische Beteiligung nicht unbedingt gegeben. 40 Prozent der Inselbevölkerung sind Analphabeten, und Spanisch ist für viele Aymara eine Fremdsprache. Lesen und schreiben zu können, ist für die Subsistenzlandwirtschaft nicht unbedingt erforderlich, doch besitzen die Aymara häufig auch keine Eigentumspapiere für ihr Land. Ein Hindernis für die Alphabetisierung war auch die Knappheit an Lehrern. Die Gewerkschaft ist daher seit Jahren hauptsächlich in der Bildung aktiv. Seit dem Jahr 2000 können die Kinder auf der Isla del Sol Abitur machen.

Einige Bewohner streben sogar die Autonomie der Insel an. »Die Haupteinnahmequelle der Isla del Sol ist der Tourismus. Wir sind der Meinung, dass Autonomie günstiger für uns ist. Wir müssen sehen, ob die Regierung dies realisieren kann, denn die Insel ist sehr klein. Auf ihr leben nur etwa 2 000 Familien. Zumindest möchten wir einen stärker dezentralisierten Staat«, erklärt Pablo. Was die Verstaatlichung des Gases angeht, so ist er der Meinung, Bolivien sei auf multinationale Firmen angewiesen.

Pablo erhofft sich höhere Einnahmen, doch viele Indigenas wollen vor allem die traditionelle Gesellschaftsform erhalten. »In unseren Dörfern sind wir immer unabhängig gewesen. Wir haben uns immer autonom organisiert. Die neue Regierung ermöglicht die Schaffung von Gesetzen, die unsere Kultur schützen. Wir möchten, dass ein Gesetz geschaffen wird, das uns Autonomie garantiert, eine Art von Autonomie, die es suns ermöglicht, Entscheidungen zu treffen, nach unseren eigenen Gewohnheiten und Bräuchen zu leben, sodass andere uns nicht vorschreiben können, wie wir zu leben haben. Aber leider haben die Geschäftsleute uns unsere Unabhängigkeit genommen, sie haben ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Armen und Reichen geschaffen«, sagt Julio Uqete, nationaler Repräsentant der Cidob in Santa Cruz, die 34 indigene Gruppen vertritt. Inte­res­sen­kon­flikte gibt es auch unter den Aymara, und auf der Sonneninsel werden noch viele Dollar fließen.