»Die ›Unterschicht‹ liegt ganz vorn«

Horst Dieter Schlosser

»Ausländerfrei« fing alles an. 1991 wurde diese Parole aus Hoyerswerda zum »Unwort des Jahres« gewählt. Seitdem kürt eine sechsköpfige Jury jedes Jahr die ärgerlichsten Wörter und Redewendungen der Republik. Preisträger wie »kollektiver Freizeitpark« brachten den Juroren Klagedrohungen des Innenministeriums unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl ein. Am Freitag wird das Unwort des Jahres 2006 vorgestellt.

Horst Dieter Schlosser ist emeritierter Professor für deutsche Philologie und Gründer und Sprecher der »Sprach­kritischen Aktion Unwort des Jahres«. Mit ihm sprach Doris Akrap.

Wann wählen Sie das Wort »Unwort« zum Unwort des Jahres?

Den Ausdruck »Unwort« gibt es seit 1473 in der deutschen Sprache. In seiner Bedeutung als Wort, das man möglichst nicht verwenden sollte, ist es alles andere als verletzend und beleidigend. Die Vorsilbe »Un« bedeutet nicht nur, wie allgemein angenommen, »nicht«. »Un« heißt in vielen anderen Fällen, es gibt etwas und es muss kritisiert werden. Zum Beispiel Unding, Unzeit, Unart, Unsitte. Bei Unzeit ist es ganz deutlich. Man kommt ja nicht aus der Zeit, man kommt bloß zur falschen.

Welches wird das Unwort 2006?

Nach 2 247 Zuschriften und 1 130 Vorschlägen liegt die ›Unterschicht‹ ganz vorn, dicht gefolgt vom ›Prekariat‹. Die Jury wird wohl das ›Prekariat‹ in die engere Auswahl nehmen. Ich sehe das nicht so, weil beides soziologische Begriffe sind, die durchaus zutreffend die Realität beschreiben. Der Unterschicht anzugehören, bedeutete für lange Zeit nicht, dort ewig bleiben zu müssen. Es gab Aufstiegsmöglichkeiten. Die Schichten waren durchlässig, natürlich auch nach unten, aber auch nach oben. Zurzeit sieht es so aus, als ob die Grenzen nur nach unten offen sind. Und wer von dort aus nicht mehr hoch kommt, der gehört wirklich zu den Abgehängten.

Sie geben nichts auf die Meinung der Masse?

Wir können uns nicht allein an der Mehrheit der Vorschläge orientieren. Der »Problembär« Bruno, der das dritthäufigste vorgeschlagene Unwort ist, scheint vielen Leuten auf die Nerven gegangen zu sein. Allerdings erfüllt der »Problembär« tatsächlich die Kriterien für ein Unwort, da er eine falsche Bezeichnung ist. Denn nicht der Bär, sondern die Menschen waren das Problem. Auch gibt es pressure groups, die mit Unterschriftenkampagnen versuchen, ein bestimmtes Unwort ins Rennen zu schicken, wie beispielsweise das Neue Deutsch­land, das mit einem Aufruf seine Leser dazu animierte, die »Roten Socken« zum Unwort zu machen. So etwas können wir nicht berücksichtigen, sonst müssten wir vielleicht eines Tages »Demokratie« oder »Freiheit« zu Unwörtern erklären.

Pressure groups? Sie haben nichts gegen Anglizismen?

Das ständige Wettern gegen die englischen Wörter ist mir lästig. Ich finde es unmöglich. Man darf nicht vergessen, wie viele Domänen, also Sprachgebrauchs­ebenen es gibt, in denen Englisch keine Rolle spielt. In massenwirksamen Bereichen wie dem Turnsport oder in der Bild-Zeitung finden Sie so gut wie keine Anglizismen. Ganz extrem ist es im deutschen Recht und damit in der Verwaltungssprache. Die hat andere Tücken, aber da gibt es keine Anglizismen. Das BGB gibt es vor. Es hat 1895 festgelegt, wir müssen einen Text schaffen, den jeder Deutsche versteht.

Was bei Wörtern wie »Pfändungspfandrecht« oder »Adhäsionsverfahren« nicht gerade gelungen ist, oder?

Das so genannte Hochdeutsch von Beamten und Politikern ist oftmals direkt daneben. So schloss die Landesregierung von Rheinland-Pfalz mit den Sinti und Roma kürzlich einen Vertrag, in dem sie von »Angehörigen mobiler ethnischer Minderheiten« spricht. Und die Polizei setzte noch einen drauf und machte daraus »MEM«. Diese aus gutmenschlichen Absichten und historischen Belastungen entwickelten Formulierungen schützen die Ausländer nicht vor Rassismus. Sie werden nicht dadurch beliebter, dass man sie »Menschen mit Migrationshintergrund« nennt.

Erhalten Sie auch Zuschriften von Ausländern?

Eine Türkin hat uns einmal den Begriff »türken«, das für »betrügen« gebraucht wird, als Unwort vorgeschlagen. Ich habe das abgelehnt, weil der historische Ursprung ein anderer ist. Nicht von den betrügerischen Türken leitete sich das Wort her, sondern von den betrügenden Deutschen. Diese Nichttürken stellten sich nämlich in den Türkenkriegen so dar, als seien sie so stark wie die Türken, was nicht der Fall war.

Mir ist nur die Version des Schachtürken bekannt. Eine als Türke verkleidete, schachspielende Holzpuppe wurde von einem Zwerg gelenkt, der unter der Puppe saß.

Aber das ist jüngeren Datums, die andere Geschichte stammt aus der Zeit, als die Türken vor Wien standen. »Getürkt« ist in seiner ur­sprüng­lichen Bedeutung ein Wort der Anerkennung. Heute hat sich diese Bedeutung geändert, und ich bin zu der Meinung gelangt, dass das Osmanische Reich untergegangen ist und der Normalbürger so viel Sprachgeschichte nicht kennt. Deshalb halte ich das Wort »türken« inzwischen für ein Unwort.

Was ist Ihr persönlicher Favorit für das nächste Unwort?

Ich halte einen Ausdruck wie »Prozess­ökonomie«, den Juristen für die vorzeitige Einstellung von Strafverfahren benutzen, oder eine Formulierung wie »Neid­debatte«, mit der der ehemalige Präsident der Bundesbank, Ernst Wel­teke, auf die Kritik an seiner Klage um höhere Pensionsansprüche reagiert hat, nicht unbedingt für gute Worte. Persönlich wäre mir aber daran gelegen, mal etwas ganz anderes zu nehmen.

Ganz schlimm finde ich die »Kleinvoliere«. Voliere heißt Flugkäfig! Wenn ein Huhn in einer Kleinvoliere seine Flügel nur ausstreckt, würde es sich diese brechen. Das Wort stammt übrigens vom Bundesverband Deutsches Ei. Eieiei kann ich da nur sagen.

Das Interesse an deutscher Sprache hat deutlich zugenommen. Die Qualität des Gesprochenen scheint sich dadurch nicht verbessert zu haben.

Es gab zu jeder Zeit miese und fantastische Texte. Das miese Deutsch fällt heute mehr auf, weil insgesamt mehr geschrieben wird. Es ist schade, dass es so viele Jugendliche gibt, die sich sprachlich nicht ausdrücken können und sich dadurch Berufschancen verbauen. Aber die Leute scheitern nicht an der Sprach­inkompetenz, sondern daran, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt.

Mehr als die jugendliche Inkompetenz trägt der Verein Deutsche Sprache, der ursprünglich »Verein zur Rettung der deutschen Sprache« hieß, zum Sprachverfall bei. Er bringt bei der Übersetzung englischer Wörter ins Deutsche Ergebnisse hervor, die zum Totlachen sind. So soll der Laptop zum »Klapprechner« werden, das erinnert an die Formulierung »Jungfernzwinger« für das Wort Kloster. Brain­storming soll durch »Denkpause« ersetzt werden. Bei dieser Idee hatten sie wohl selbst eine Denkpause, aber kein Brainstorming.

Schon Mark Twain bemängelte, die deutsche Sprache sei systemlos. Das Fräulein habe kein Geschlecht, die Rübe schon.

Dieses Problem hat die feministische Sprachkritik erledigt. Das »Fräulein« kennt man ja höchstens noch als Bedienung. Machen Sie sich keine Sorgen, in spätestens 500 Jahren sind wir so weit wie die Engländer und haben kein Geschlecht mehr. Sie haben uns vorgemacht, wohin die Reise geht. Die haben nur noch vereinzelt den angelsächsischen Genitiv mit »s«, ansonsten haben sie gar keine Fälle mehr und arbeiten mit Präpositionen. Das Englische hat ganz andere Differenzierungsmöglichkeiten, als es das Konferenzenglisch vorgaukelt, mit dem die Deutschen ihre internationalen Kollegen quälen.