Unter Bestien

Über 70 Jahre nach seiner Entstehung erscheint Jean Amérys Jugendroman »Die Schiffbrüchigen«. von jan süselbeck

Immer hatte er sich gewünscht, als Schriftsteller Anerkennung zu finden. Dass nun, knapp 30 Jahre nach Jean Amérys Tod, sein erster Roman »Die Schiffbrüchigen« (1935) doch noch erscheint, grenzt an ein Wunder. Während sein Autor ins Exil musste, deportiert wurde und schließlich Auschwitz überlebte, überstand das 392seitige Typo­skript die NS-Zeit im Bestand der so genannten Wiener Manuskriptvermittlung. Hans Mayer, wie der als Katholik erzogene Améry damals hieß, galt auch im klerikalfaschistischen Österreich vor dem »Anschluss« ans Dritte Reich immer mehr als »der Ju­de«, als der er sich gar nicht fühlte. Er war 23, als er beschloss, darüber einen Roman zu schrei­ben.

Der Text schildert den kontinuierlichen sozialen Abstieg der Alter-Ego-Figur Eugen Althager. »Erst langsam und schwierig brach das Wissen in ihm auf, dass ihn die Zeit mit allen anderen seiner Rasse verfemt hatte«, berichtet der Erzähler auf den ersten Seiten des Romans über den Protagonisten.

Es verblüfft, dass hier bereits eine Erkenntnis formuliert wird, die in Amérys politischen Essays der sechziger und siebziger Jahre besonders wichtig wer­den sollte: »Seine Schuld war es wohl, dass er nicht wusste, worin seine Zugehörigkeit zu jener Rasse be­stand. Nichts galten ihm ihre Werke, Riten, unwesent­lich erschien ihm die Urkunde seiner Geburt (…). Nichts band ihn an das Volk, zu dem er nun gehören musste.« Niemals habe er »bedacht, dass es auch ihn einmal hineinziehen könnte, zwingen in ein Kollektiv«.

Althager ist einsam, aber nicht allein. Er bildet das erzählerische Zentrum einer kleinen Gruppe gescheiterter Figuren, von denen die wichtigsten seine große Liebe Agathe und sein Jugendfreund Heinrich Hessl sind. Der allwissende Erzähler blickt allen abwechselnd über die Schulter, um den Leser mit ihren Gedanken, Ängsten und Hoffnungen vertraut zu machen.

Der Ton des Romans lässt schnell erkennen, dass ihn ein Mittzwanziger geschrieben hat. Obwohl die Sätze kurz sind, neigen sie hier und da zum Pathos. Manche der philosophischen Exkurse wirken aufgesetzt – obwohl sie von einer hohen Bildung des jungen Autors zeugen. Das Lob der ländlichen Heimat wird schon als reaktionäre Ideologie durchschaut. Ein abgelegenes Dorf mit dem klingenden Namen Kirchleiten steht in Amérys Roman nur noch für eine unwiderbringlich verlorene Idylle der Kindheit, vergleichbar etwa Theo­dor W. Adornos Jugenderinnerung an das unterfränkische Amorbach. Das unpolitische Idyll der Stadtflucht werde im Roman nur noch als »irrationale Mystifizierung ad absurdum geführt«, bemerkt auch Irene Heidelberger-Leonhard in ihrer konzisen Améry-Biografie (2004).

Ernüchternder ist das Frauenbild. Der vollkommen mittellose und in einem Kellerzimmer vegetierende Althager verliert Agathe, als sie von ihm schwanger wird und die unvermeidliche Abtreibung nicht bezahlen kann. Der wohlhabende Ingenieur Ernst Höllmer begehrt das Mädchen schon seit längerem und bietet an, ihr die 200 Schilling zu zahlen, wenn sie einmal mit ihm schlafe. Die junge Frau ringt mit sich, geht aber schließlich auf den Handel ein, als auch ihr Freund in seiner Hilflosigkeit nichts gegen diesen Ausweg einzuwenden weiß. Obwohl Agathe den Ingenieur Höllmer nicht liebt, weckt die Prostitution ungeahnte Lüste in ihr und steht für den Anfang vom Ende der Beziehung zu Eugen.

Zusammen mit einigen anderen Frauen­figuren, die Améry um seinen Protagonisten gruppiert und aus deren Per­spektive er derartige Konflikte einfühlsam zu schildern versucht, entsteht der Eindruck, als solle hier so etwas wie ein weibliches Natur­streben dokumentiert werden, im Mann stets ein Sicherheit bietendes Alphatier zu suchen. Gleichzeitig wird gerade in solchen Perspektivwechseln auch Amérys frühes Talent sichtbar, seinen Figuren Leben einzuhauchen. Selbst Robert Musil, dem der junge Autor sein Manuskript auf Thomas Manns Empfehlung hin hoffnungsfroh geschickt hatte, musste einräumen, »dass dieser Roman recht begabt sei, wenn er auch gewisse Unreifen zeige«.

Wenn man sich nun vergegenwärtigt, was im Leben Amérys auf das folgte, was er schon 1935 mit solcher Klarsicht und Resignation zu einem Kunstwerk zu verdichten verstand, so kann es einem tatsächlich »kalt über den Rücken laufen«, wie es der Autor selbst 1978 – kurz vor seinem Freitod – bei der Wiederlektüre seines Frühwerks notierte. Auch Eugen Althager beginnt ab einem bestimmten Zeitpunkt der Handlung, den ihm altbekannten und als tröstlich empfundenen Gedanken an den Selbstmord wiederaufzunehmen.

Der Roman schildert den sozialen und emotionalen Ruin der Figur mit unerbittlicher Konsequenz. Es ist, als besteige man als Leser zusammen mit dem Protagonisten einen vergitterten Aufzug, mit dem man langsam hinunter ins Dunkel fährt, in Richtung des unausweichlichen Verderbens.

Als der vereinsamte Althager so weit heruntergekommen ist, dass er sich aus Langeweile mit der Prostituierten Mimi einlässt, nimmt das Verhängnis konkrete Gestalt an. Althager wird in einem Rache­akt des Zuhälters, mit dem (und mit anderen Lemuren) er am Spieltisch eines Caféhauses seine Tage verhockt, von bestellten Schlägern verprügelt. Schaudernd liest man, wie ihm dabei die Schulter aus­gekugelt wird. Es ist unmöglich, sich die Szene vorzustellen, ohne an die SS-Folter zu denken, die Améry später selbst erleiden musste und die er in »Jenseits von Schuld und Sühne« (1966) so erschütternd beschreibt. Es ist, als habe er bereits vor dem Krieg jene Brechung seines Ichs in seinem Roman symbolisch vorweggenommen.

Unheimlich wirkt es auch, wenn man Althagers Schicksal als prophetische Parabel auf die Judenvernichtung liest, die in Österreich mit dem »Anschluss« ihren endgültigen Lauf zu nehmen begann. Sieht Althager seinem unvermeidlichen Absturz ins Nichts doch mit hilfloser Passivität entgegen. Was sollte er auch tun? Als er endlich einmal aufbegehrt und zum Entschluss gelangt, sich gegen eine der alltäglichen Erniedrigungen zu wehren, erscheint die Entscheidung als aussichtslos und besiegelt sein Ende. Ein bulliger Burschenschafter rempelt den Verletzten in einer Tram an. Althager beschimpft den streitsüchtigen Studenten als »ucker­mär­ki­sche(n) Stierschädel« und »vertiertes Büffelgenick«. Die prompte Rückfrage des Beleidig­ten, ob er »­Arier« sei, bejaht Althager, um endlich einmal gegen die Fremdbestimmung seiner »Rasse« zu revoltieren. Es kommt zu einem Duell, bei dem ihm der massige Nationalist mit seinem Säbel den Schädel spaltet.

Ein stark emotionalisierendes Romanende also, das man als unverhältnismäßigen Märtyrerabgang abtun könnte – auch wenn die He­rausgeber im Nachwort der Ausgabe schreiben, der Protagonist wähle hier wie sein Schöpfer den »Weg größten Widerstands«. Andererseits möchte man sich wünschen, dass dieses »subversive Gegenmodell eines Bildungsromans«, wie es im Nachwort heißt, als vielschichtiges Zeitbild kontextualisiert und ernst genommen wird – als Text, der noch einmal an die k.u.k-Tradition von Joseph Roths »Radetzkymarsch« (1932) erinnert, aber gleichzeitig schon um den endgültigen Untergang der Welt weiß, die er verabschiedet.

Jean Améry: Die Schiffbrüchigen. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2007. 328 S., 22 Euro