Die Angst hat die Seiten gewechselt

Vor dem Beginn der Tour wird in Frankreich angesichts der jüngsten Doping-Geständnisse über die Zukunft von Dopingbekämpfung und Sport diskutiert. von bernhard schmid, paris

In gut einem Monat geht sie wieder los, die nächs­te Ausgabe der Tour de France beginnt am 7. Juli mit 21 Mannschaften in London. Nicht mit dabei sein wird der Däne Bjarne Riis, 1996 im damaligen Team der deutschen Telekom aktiv. Auf einer Presse­konferenz erklärte er jüngst, er fühle sich »nicht würdig«, bei dem weltberühmten Rennen mitzufahren. Der Radsportler hat zugegeben, bei seinem Sieg gedopt gewesen zu sein.

Das Team CSC, dessen Manager Riis heute ist, wurde vergangene Woche dazu eingeladen, bei der Tour de France mitzufahren. Riis wurde gleichzeitig von der Tour-Leitung zur unerwünschten Person erklärt. Direktor Christian Prudhomme persönlich äußerte sich in harten Worten gegen Riis und beschuldigte ihn, das Ansehen der Tour de France »geschändet« zu haben. Das Team Astana, dessen Manager Mario Kummer ebenfalls die Einnahme von Dopingproduk­ten während seiner aktiven Zeit eingestanden hatte, wurde hingegen auch in diesem Jahr eingeladen. Ähn­liches gilt für die Mannschaften Agritubel und Barloworld.

Anfang vergangener Woche erreichten die Enthüllungen über Dopingpraktiken im Radsport, von denen in Deutschland bereits Anfang Mai zu lesen war, auch Frankreich. Das deutsche Olympische Komitee hat infolge des ausgebrochenen Skandals seinen Vertrag mit der Universität Freiburg gekündigt, wo Jahrzehnte lang offen Forschung zu Produkten wie Epo und Testosteron – die die Muskelaktivität stimu­lie­ren oder die Sauerstoffaufnahme durch die roten Blut­körperchen erheblich erleichtern – betrieben wurde. Zwei Mediziner an der Universitätsklinik Freiburg, Lothar Heinrich und Andreas Schmid, hatten zuvor eingeräumt, den Fahrern des Telekom-Teams, das seit 2004 auf den Namen »T-Mobile« hört, in den neunziger Jahren Epo verabreicht zu haben.

Inzwischen ist die Affäre so weit gediehen, dass das Zweite Deutsche Fernsehen in der vorigen Woche da­mit drohte, die nächste Tour de France nicht zu über­tragen, falls der Sender nicht die Garantie dafür erhal­te, dass ein wirksamer Kampf gegen Dopingpraktiken aufgenommen werde. ZDF-Programmdirektor Nikolaus Brender drohte Mitte voriger Woche, falls sich »trotz der Versprechen« nach wie vor das »System und das Verhalten der Teilnehmer« nicht geändert hätten, müsse man »die Konsequenzen daraus ziehen«. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der in Deutschland für den Leistungssport zuständig ist – in der französischen Republik gibt es ein eigenes Ministerium dafür –, hat die Bildung einer speziellen Arbeitsgruppe zum Thema angekündigt.

In Frankreich, wo die von 1997 bis 2002 amtierende kommunistische Jugend- und Sportministerin Marie-George Buffet den Kampf gegen Doping als besonders wichtig auf die politische Tagesordnung setzte, ist Doping schon viel länger Thema. Seit der Ära Buffet wurde der politische Wille demonstriert, wirksam gegen Dopingpraktiken zu kämpfen – von Buffet teilweise damit begründet, das »große Geld« dürfe dem Sport nicht »seine Gesetze diktieren«.

Die Regeln wurden verschärft und erhebliche Mittel wurden in die Forschung investiert. Ein Labor in Châtenay-Malabry, einem westlich der Hauptstadt gelegenenen Pariser Vorort, entwickelte einen Urintest für den Nachweis von Epo-Spuren, der auf inter­nationaler Ebene erstmals bei den Olympischen Spielen von Sydney im Jahr 2000 zum Einsatz kam. Zuvor war es bereits bei der Tour de France zu erheblichen Skandalen rund um Doping gekommen. 1998 wurde die Mannschaft Festina vom Rennen ausgeschlossen, die öffentliche Debatte über den Zustand des Radsports und über die Möglichkeiten der Politik begann.

Allerdings verhinderte das durch die Gesetze mög­lich gewordene entschlossene Vorgehen von Polizei und Justiz keineswegs, dass es auch danach noch zu Unregelmäßigkeiten kam. 2002 wurde der aus Litauen stammende Fahrer Raimondas Rumsas Dritter bei der Tour de France, aber kurz danach wurden im Rahmen einer Routinekontrolle Dopingmittel – darunter Epo – im Gepäck seiner Ehefrau aufgefunden. Und 2005 enthüllte die Sporttageszeitung L’Equipe, dass in einer nachträglich untersuchten Urinprobe des mehrfachen Toursiegers Lance Armstrong aus dem Jahr 1999 ebenfalls Spuren von Epo nachgewiesen worden seien.

Tourdirektor Christian Prudhomme hat im Zusammenhang mit den jüngsten Enthüllungen aus Deutschland von einem »9. No­vember 1989« gesprochen, die Veröffentlichung der Informationen über Dopingpraktiken also mit dem Einsturz der Berliner Mauer verglichen. Andere Beobachter sind da nicht so optimistisch. Marc Madiot, der Manager des Teams der französischen Lottogesellschaft Fran­çaise des jeux (FDJ), sagte Anfang voriger Woche der Presse, es würde ihn keineswegs überraschen, falls bekannt werde, dass Fahrer seines eigenen Teams in den neun­ziger Jahren ebenfalls verbotene Produkte zu sich genommen hätten. Die FDJ-Mann­schaft beschäftigte früher den Belgier Jeff d’Hont als Masseur, der von 1992 bis 1996 beim deutschen Telekom-Team tätig war und dessen jüngste Enthüllungen die gegenwärtigen Dopinggeständnisse zur Folge hatten.

Dies sei ihm aber »egal«, fügte Madiot hinzu, denn es gehe ihm »nicht um die Ver­gangenheit, sondern darum, den Netzwer­ken auf die Schliche zu kommen«, die noch immer verbotene Produkte in Umlauf hielten. Aber »die Angst hat die Seiten gewech­selt«, fügte er unter Benutzung eines bekannten französischen Ausdrucks hinzu. Das bedeutet, dass früher diejenigen um ihre Karriere fürchten mussten, die bei Dopingpraktiken nicht mitzumachen bereit waren – wie der frühere deutsche Telekomfahrer Bernd Gröne, der nach eigenen Angaben 1995 die Worte hörte: »Du verbesserst deine Leistungen, oder wir verlängern deinen Vertrag nicht.« Er habe Epo angeboten bekommen, es jedoch ausgeschlagen und daraufhin seine Karriere zwei Jahre früher als geplant beendet. Nunmehr aber, so der Sinn der Worte Madiots, sei es eher eine Gefährdung der Sportkarriere, Dopingprodukte anzunehmen statt sie auszuschlagen.

Diese Auffassung wiederum teilt An­to­ine Vayer, der frühere Trainer des Festina-Teams, nicht. Illusionslos sagte er der Tageszeitung Libération, für die er die kommende Tour de France im Juli kommentieren wird: »Die Tour wird auch dieses Jahr ein Wettbewerb mit 180 Teilnehmern sein, bei dem am Ende die am besten Gedopten siegen werden.« Bjarne Riis, fährt er fort, sei nur »die Spitze des Eisbergs, ein bequemer und gut sichtbarer Sündenbock«.

Dieselbe Zeitung fragt in einem Kommentar zum Thema, ob man sich nicht gleich die Frage nach einer Legalisierung des Dopings stellen solle, die zuvor der Equipe-Journalist Christian Montaignac auf­geworfen hatte. Sicher, meint die Zeitung: »Heute erschöpft man sich darin, hinter den Schwindlern herzulaufen; in dem Fall (der Legalisierung) wären die Dinge wenigstens transparent, und die Produkte würden mit einem Etikett nach ihrer Herkunft gekennzeichnet, wie freilaufende Hühner.« Aber die Zeitung fügt ironisch die Frage hinzu: »Ein freies marktwirtschaftliches Doping, nach Art der Rechten? Oder ein sozialdemokratisches Doping, von Re­gulierungsbehörden gesteuert?« Eines Tages aber drohe sich das Publikum von einem Radsport abzuwenden, der »uns nur falsche Sieger liefert, deren Verfallsdatum keine zehn Jahre überschreitet«.

In einem Interview mit Le Monde benennt Gerhard Treutlein, Leiter der sport­medizinischen Abteilung der Universität Heidelberg, einige Hintergründe der verbreiteten Praktiken und bezeichnet die derzeitige Empörung in der Politik als Heuche­lei: »Wenn Berufspolitiker wie Wolfgang Schäub­le sich von den Enthüllungen der letzten Tage überrascht zeigen, dann haben sie in der Vergangenheit geschlafen oder so getan, als ob. Wer die Dinge sehen und hören wollte, hatte die Gelegenheit dazu. Der politische Wille und der organisierte Sport wollten in der Vergangenheit – wie in der Mehrzahl der Staaten – nicht gegen solche Ärzte vorgehen, da das Ergebnis ihres Handels von Vorteil für die Nation war, ihr Medaillen und Titel einbrachte.«

Das zieht eine der wirklichen Fragen nach sich, die man sich stellen müsste. Eine andere Frage, der nachzugehen wäre, lautet, ob das sich wegen des »Betrugs« empört gebende Pub­likum nicht mindestens ebenso enttäuscht wäre, würden alle Dopingpraktiken von einem Tag auf den anderen aufhören. Denn bestimmte Höchstleistungen würden dann wahrscheinlich nicht ganz so spektakulär ausfallen, wie dies bislang der Fall war oder schien. Rückt das Publikum dann nicht enttäuscht von seinen Idolen ab und übt sich wiederum in Sportlerbeschimpfung, diesmal weil Spannung und Action nicht mehr das gewohnte Ausmaß erreichen?