Sexuelle Belästigung im Vereinssport

Niemand ist sicher im Sport

In Großbritannien und den USA wird darüber debattiert, wie hoch für Frauen das Risiko ist, beim Joggen sexualisierte Gewalt zu erfahren. Wie ist die Lage in Deutschland?

Im englischsprachigen Raum findet eine Diskussion über die Risiken, alleine draußen Sport zu treiben, statt. »Die Mehrheit der US-amerikanischen Frauen hat im Laufe ihres Lebens Angst vor Belästigung im öffentlichen Raum«, schreibt der Guardian. Einer aktuellen Studie der Universität Manchester zufolge erlebten zwei Drittel der Joggerinnen in Großbritannien vor allem verbale Belästigungen durch Männer oder Jungen.

Nur fünf Prozent solcher Fälle würden angezeigt, heißt es in der Studie weiter. Das Risiko, beim Joggen ermordet zu werden, liegt einem Bericht des Sportmagazins Runner’s World zufolge bei eins zu 35.336. Allerdings handle es sich dabei in den meisten Fällen um Beziehungstaten, bei denen sich Opfer und Täter kennen, und nicht um Angriffe von Fremden.

»Angriffe unterwegs sind selten. Im Vereinssport kommen Übergriffe allerdings sehr häufig vor.« Ina Lambert, Geschäftsführerin des Vereins »Safe Sport«

Aber wie ist die Situation in Deutschland? Wie oft Frauen hierzulande beim Laufen in Parks, am Fluss oder auf den Straßen sexuelle Gewalt erfahren, ist schwer herauszufinden. Die Jungle World hat bei den Innenministerien der 16 Bundesländer nachgefragt. Fast immer lautete die Antwort, man wisse es nicht. Straftaten werden von den Ländern nach den Kriterien der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst. In diese fließt nicht ein, ob eine Frau beim Sport, bei einem Spaziergang oder auf dem Weg zur Arbeit belästigt oder vergewaltigt wird.

Sehr großes Dunkelfeld

»Wie bei vielen Sexualdelikten ist davon auszugehen«, antwortet die bayerische Polizei, »dass es auch bei sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen beim Sport ein sehr großes Dunkelfeld gibt. Das bedeutet, dass die Polizei in nur relativ wenigen Fällen durch eine Anzeige von einer entsprechenden Straftat Kenntnis erhält.«

In Rheinland-Pfalz hat man nach der Anfrage der Jungle World genau hingeschaut. Zwar gebe es, teilt das dortige Innenministerium mit, für das Merkmal »sporttreibend« keine Erfassungsparameter in der PKS. Aber man habe zur Auswertung »die folgenden Tatörtlichkeiten einbezogen: Sportgelände/Sportstätte, Schwimmbad, Badestelle und sonstige Sport- und Freizeiteinrichtung«. Ob eine Frau, die in der Nähe eines solchen Orts Opfer wurde, eine Sporttreibende oder Zuschauerin einer Sportveranstaltung gewesen sei, könne man allerdings nicht sagen.

Nach den Zahlen aus Rheinland-Pfalz wurden im Jahr 2022 28 sexuelle Belästigungen (im ersten Halbjahr 2023: 16) gemeldet, 30 exhibitionistische Handlungen (fünf), sieben Vergewaltigungen (eine), fünf Verletzungen des Intimbereichs durch Bildaufnahmen (eine), eine sexuelle Nötigung (eine), eine Erregung öffentlichen Ärgernisses (eine) und zwei sexuelle Übergriffe (null). Acht der 74 erfassten Straftaten fanden auf Sportgeländen und in Sportstätten statt (sieben), fünf an Badestellen oder in Schwimmbädern (sieben) und 31 in Sport- und Freizeiteinrichtungen.

70 Prozent der Befragten gaben an, in ihrem Leben bereits irgendeine Form von Gewalt, Grenzverletzung oder Belästigung in Zusammenhang mit dem Vereinssport erfahren zu haben.

Auch Bremen antwortete mit Zahlen. Demnach kam es 2022 zu einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zu einer sexuellen Belästigung auf Sportgeländen und Sportstätten. In denselben Deliktbereichen ereigneten sich 2022 je zwei Taten in Hallenbädern oder Schwimmbädern. In Freizeit- und Sportstätten kam es 2022 zu sieben Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, zwei Vergewaltigungen, zwei sexuellen Belästigungen und drei exhibitionistischen Handlungen.

Ob die Straftaten im Rahmen des Vereinssports oder beim Individualsport begangen wurden, wird nicht erfasst. Selbst ohne diesbezügliche Daten geht Ina Lambert davon aus, dass ein Großteil der Missbrauchsfälle im Sport im Zusammenhang mit dem Vereinssport steht: »Angriffe unterwegs sind selten. Im Vereinssport kommen Übergriffe allerdings sehr häufig vor.« Lambert ist Geschäftsführerin des Vereins Safe Sport, der unabhängigen Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter, psychischer und physischer Gewalt im Sport. Der im November 2022 gegründete Verein mit Sitz in Berlin wird aufgrund eines Beschlusses des Bundestags finanziert durch das Bundesinnenministerium, das auch für Sport zuständig ist, und die Sportministerkonferenz der Länder.

In der Studie »Sicher im Sport« der Sporthochschule Köln, der Bergischen Universität Wuppertal und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm von 2022 gaben 70 Prozent der befragten Sportvereinsmitglieder an, in ihrem Leben bereits irgendeine Form von Gewalt, Grenzverletzung oder Belästigung in Zusammenhang mit dem Vereinssport erfahren zu haben. 63 Prozent berichteten, dass sie Formen von psychischer Gewalt im Vereinssport erlebt haben, 37 Prozent waren mit körperlicher Gewalt im Vereinssport konfrontiert, 26 Prozent hatten Erfahrung mit sexualisierter Gewalt ohne Körperkontakt und 19 Prozent mit sexualisierter Gewalt mit Körperkontakt.

Frauen und Mädchen sind der Studie zufolge unter den von sexueller Gewalt Betroffenen überproportional vertreten, ebenso wie Kinder und Jugendliche.

Die Studie zeigt, dass sexuelle Gewalt im Verein alle betrifft: Frauen, Männer, Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Allerdings verteilten sich die Taten nicht gleichmäßig auf die Geschlechter und Altersgruppen. Frauen und Mädchen sind der Studie zufolge unter den Betroffenen überproportional vertreten, ebenso wie Kinder und Jugendliche. Zwar gibt es demnach auch Täterinnen, Täter kommen jedoch weitaus häufiger vor.

»Sexualstraftaten in der Öffentlichkeit finden eher ad hoc statt. Das Opfer wird meistens zufällig ausgewählt«, sagt Ina Lambert. Dass beim Joggen im Park seltener etwas passiere als im Verein, liege auch daran, dass man im Park meistens nicht alleine sei. Spaziergänger, Menschen, die ihre Hunde ausführen, und andere Sportler sorgten für eine gewisse Öffentlichkeit, und »meistens schützt Öffentlichkeit«. Sexualdelikte in Vereinen hätten hingegen einen langen Vorlauf: »Die Täter gehen strategisch vor. Sie stellen Vertrauen her. Betroffene werden manipuliert und oftmals isoliert, bis es dann zu den Übergriffen kommt.«

Missbrauch in der Yoga-Gruppe

Im Vereinssport existieren zudem besondere Risikofaktoren: »Es gibt ein Machtgefälle zwischen Trainern und Sportlern, vor allem im Leistungssport. Dazu kommen beispielsweise Faktoren wie die Körperzentrierung und Umzieh- und Duschsituationen.« Trainer, die in einem Verein zum Täter werden, hätten zuvor oft über viele Jahre hinweg auch in anderen Vereinen ähnliche Straftaten begangen.

Safe Sport e. V. hilft bundesweit von Gewalt und Missbrauch betroffenen Menschen. Auch wenn das Hauptaugenmerk auf Vereinssportlern liegt, kann sich jeder melden: »Wir schicken niemanden weg, der etwas beim Joggen oder, was auch schon einmal in einem Beratungsgespräch vorkam, in einer Yoga-Gruppe Missbrauch erlebt hat.«

Bei der Beratungsstelle melden sich aber nicht nur Personen, die selbst Opfer geworden sind, sondern auch Eltern oder Menschen, die Vorfälle beobachtet haben. »Wir können«, sagt Lambert, »juristische oder psychologische Beratung anbieten. Wichtig ist für uns aber erst einmal zu klären, was geschehen ist und was unsere Ratsuchenden wollen.« Oft sei auch schon die Einschätzung wichtig, ob es sich um eine Gewalttat gehandelt hat. »Wichtig ist, dass die Menschen im Kopf haben: Es könnte auch bei uns im Verein passieren.« Oft seien es die engagierten Menschen, die andere manipulierten und in Missbrauchssituationen brächten.