»Der Krieg war sehr schädlich«

Tom Segev

Der Historiker und Journalist Tom ­Segev lebt in Jerusalem. Er ist regelmäßiger Kolumnist der linksliberalen Tageszeitung Ha’aretz. In Deutschland wurde er vor allem mit seinem umstrittenen Buch »Die siebte Mil­lion« bekannt. Gerade ist im Siedler-Verlag ein neues Buch des 62jährigen Autors erschienen, in dem er sich mit dem Sechs-Tage-Krieg, dessen Vorgeschichte und Nachwirkungen beschäftigt. Auch dieses Buch mit dem Titel »1967 – Israels zweite Geburt« sorgt derzeit für Diskussionen. Mit Tom Segev sprach Jonny Weckerle

Wie unterscheidet sich Ihr Buch über den Sechs-Tage-Krieg von der offiziellen israelischen Darstellung?

Es handelt sich eigentlich nicht um einen Krieg, sondern um drei verschiedene, die drei unterschiedliche Erklärungen benötigen: der Krieg gegen Ägypten, der Krieg gegen Jordanien und der Krieg gegen Syrien. Ich glaube, der Krieg gegen Ägypten war un­vermeidbar, aber nicht, weil die Ägypter vor­hatten, Israel zu zerstören, sondern weil die Israelis das glaubten. Wir wissen eigentlich gar nicht, was die Ägypter wirklich woll­ten. Aber Israel war damals aus mehreren Gründen gesellschaftlich und psychologisch sehr schwach. Es gab beispielsweise eine Wirtschaftskrise, und es haben mehr Juden das Land verlassen als eingewandert sind. Und als dann die Krise an der ägyptischen Grenze im Mai 1967 ausbrach, war Israel psychologisch zu schwach, um anders als mit Krieg zu reagieren. Die meisten Israelis glaubten damals wirklich, ohne manipuliert worden zu sein, dass Ägypten einen zweiten Holocaust vorbereitet. Der erste lag damals noch nicht lange zurück, und die meisten Israelis waren Überlebende.

Doch der Krieg mit Ägypten war innerhalb von 90 Minuten durch die Zerstörung der ägyp­­tischen Luftwaffe am Boden entschieden. Der Krieg mit Jordanien kann nicht mehr die glei­che existenzielle Angst als Erklä­rung haben. Die Eroberung der Westbank und von Ost-Jerusalem stand den wirklichen israelischen Interessen entgegen. Wenn wir zurückblicken, erkennen wir, dass das sehr schädlich für die Zukunft war und absolut keinen Vorteil brach­te, im Gegenteil.

Sie schreiben, dass Israel nicht in Gefahr war und auch nicht gekommen wäre, wenn die arabischen Staaten zuerst angegriffen hätten. Sicherheitsargumenten wie dem, dass Israel wegen seiner geringen Größe nur offensiv zu verteidigen war, geben Sie wenig Gewicht. Der Historiker Michel Oren sieht hingegen den Haupt­erfolg des Kriegs darin, dass Israel nicht zerstört wurde.

Mein Buch handelt nicht hauptsächlich von dem Krieg, sondern von der israelischen Gesellschaft. Ich glaube, dass Orens Ansicht völlig falsch ist. Er betrachtet die Ereignisse ausschließlich als Teil des Kalten Kriegs, als Teil des israelisch-arabischen und israelisch-palästinensischen Konfliktes. Ich bin als Historiker nicht der Auffassung, dass alle Dinge so geschehen mussten, wie sie geschahen. Vielleicht hätte eine Gesellschaft mit stärkeren Nerven und einer stärkeren politischen Führung den Konflikt an der ägyptischen Gren­ze anders lösen können. Und Jordanien war niemals eine existenzielle Bedrohung. Der strategische Vorteil durch die Eroberung der paar Kilometer Westbank ist schnell durch die Entwicklung neuer Waf­fentechnologien unwichtig geworden. Dafür gab es nun Palästinenser, die frei nach Tel Aviv gehen konnten, um dort Bomben zu legen.

In Ihrem Buch scheint Israel der einzig verantwortliche Akteur zu sein.

Ich meine nicht, dass die anderen nicht wichtig sind, ich sage nur, dass man die ganze Geschichte nicht versteht, wenn man Israel nicht versteht. Und die Frage nach Schuld oder Verantwortung ist sicher die letzte, die mich als Historiker interessiert.

Sie sagen, dass alles, was wir nach dem Krieg erlebt haben, seine Wurzeln im Jahr 1967 hat. Dagegen wird in der linken Debatte in Deutschland häufig auf Figuren wie den Gründer der antisemitischen Mus­limbruderschaft Hassan al-Banna oder den palästinensischen Großmufti von Jerusalem und Nazikollaborateur Hadj Amin al-Husseini verwiesen. Sie gelten als Beispiele für einen Kampf gegen die Juden, der schon vor der Besatzung begann und sich bis heute fortsetzt. Der Judenhass wird als Wurzel und Kern des Konflikts begriffen.

Unter den Linken ist das ein Argument? Ich hätte das bei den Rechten vermutet, aber in Israel weiß man oft nicht, dass es auch pro-israelische Linke gibt. Aber ja, es stimmt, dass 1967 lange vor 1967 begonnen hat. Doch diese Frühgeschichte liegt sehr lange zurück, und ich glaube, dass alles, was in den letzten Jahren geschah, im Schatten des Sechs-Tage-Kriegs stand. Heute geht es nicht um irgendwelche historischen Anschuldigungen, sondern darum, wie man das Leben für Israelis und Palästi­nenser erträglicher macht. Im Moment ist es für beide Seiten unerträglich. Es kann jeden Moment zur Explosion kommen, in Gaza hört man schon die ersten Detonationen. Ich glaube, dass es derzeit unerlässlich ist, nicht große Friedenslösungen zu suchen, sondern ganz praktisches Konfliktmanagement zu betreiben. Das Allerwichtigste wäre, dass die Palästinenser wieder etwas zu verlieren haben.

Lebt nicht in der Hamas oder der antisemitischen Propaganda in den arabischen Medien der Geist al-Bannas und al-Husseinis fort?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist oft schwer zu unterscheiden, wo die paläs­tinensische Propaganda antiisraelisch ist und wo sie antisemitisch wird. Man muss sehr genau hinsehen. Der Kon­flikt ist komplizierter geworden, weil auf beiden Seiten die Religion heute eine viel wichtigere Rolle spielt. Auf der palästinensischen Seite gibt es die Hamas, die uns 25 Jahre zurückwirft in eine Zeit, in der die Palästinenser mit Israel überhaupt nicht sprachen, aber damals war es eine sehr säkulare Bewegung, heute geht es um religiöse Gefühle, bei denen Logik gar keine Rolle spielt. Und es gibt leider auch in Israel immer mehr religiösen Fanatismus, nicht nur unter den Siedlern.

Deshalb ist es auch viel leichter, im Kon­flikt mit Syrien eine Lösung zu finden, denn dabei geht es um konkrete und verhandelbare Interessen. Beim Konflikt mit den Palästinensern geht es um die Identität von zwei Völkern, welche sehr stark an das Land, und zwar an das ganze Land gebunden ist und die in den letzten Jahren immer stärker religiös wurde.

Aber genau deshalb ist es unbedingt not­wendig, dass Israel mit der Hamas verhandelt. Ja, das sind böse Menschen, aber man kann sich den Feind nicht aussuchen. Präsident Abbas hat alle Papiere unterschrieben, wunderbar, genau wie wir in den vergangenen 40 Jahren, aber er hat nur wenig zu sagen. Man muss mit Terroristen reden, das sind diejenigen, die ausschlaggebend sind. Wenn man das nicht direkt kann, weil etwa die Hamas Israel nicht anerkennen will, dann könnte vielleicht Europa die Rolle eines Vermittlers spielen.

Was wäre die Aufgabe eines kritischen arabischen oder palästinensischen Historikers?

Leider gibt es nicht viele davon. Ge­schichts­schreibung spielt dort noch immer die Rolle, die sie in Israel vor 50 Jahren gespielt hat, ist ein Teil der na­tionalen Identitätsbildung. Die Aufgabe wäre es, die Fehler der arabischen Gesellschaft aufzudecken, den arabischen Fanatismus, den glorifizierten palästinensischen Terrorismus zu kritisieren, eine Anerkennung Israels und mehr Demokratie zu fordern. Mehr Selbstkritik wäre wichtig, auch unter Palästinensern. Warum muss ich ihnen sagen, dass ihr Mufti sich nicht mit Hitler hätte treffen sollen? Nicht alles hat notwendig so geschehen müssen, wie es geschah, und deshalb liegt es auch in unseren Händen, die Dinge für die Zukunft besser zu gestalten.