Fliegende Fahnen

Eine politische Geschichte des deutschen Fußballs der vergangenen zehn Jahre. von alex feuerherdt und martin krauss

Als 1997 die »Jungle World« gegründet wurde, hatten Schalke und Dortmund soeben den Uefa-Pokal respektive die Champions League gewonnen, und bei der Europameisterschaft ein Jahr zuvor war die DFB-Elf siegreich geblieben. Nicht gerade optimale Zeiten also für einen kritischen Blick auf den Fußball, und es kam sogar noch dicker: Bei der WM 1998 in Frankreich prügelten deut­sche Hooligans einen Gendarmen zum Krüppel.

Kritiker der vorherrschenden Vergesellschaftung des Fußballs waren dadurch ins Abseits gestellt; Fans, Soziologen und Journalisten, die sich gegen Repressalien gegen Stadionbesucher aussprachen, schienen genauso widerlegt wie die Anhänger des Spiels, die sich die fußballerische Inszenierung eines ästhetischen Kollektivs erhofften: Die DFB-Truppe reiste mit dem im Rest der Welt schon längst aussortierten Libero zum Turnier und verwies darauf, mit einem solchen bereits zwei Jahre zuvor die Euro gewonnen zu haben. Ätsch, resümierten Freunde des deutschen Fußballs vor dem Turnier, das Genörgel über fehlen­de Modernisierung und Verwissenschaftlichung, die Schreierei über bedrohte Fanrechte und Stehplätze ist perdu; der deutsche Fußball funktioniert ohne diese ganzen Kritikaster wunderbar.

Doch der Ausgang der Weltmeisterschaft 1998 sorg­te für andere Einsichten. Es gewann der Gastgeber Frankreich, und dessen Fußball zeigte, wie eine moderne Gesellschaft verfasst sein sollte, will sie erfolgreich sein: Zinedine Zidane ist ein Sohn algerischer Einwanderer, Marcel Desailly wurde in Ghana geboren, Christian Karembeu stammt aus Neukaledonien, Youri Djorkaeffs Mutter ist Armenierin, sein Vater Pole. Diese Normalität der französischen Gesellschaft spiegelte sich auf dem Spielfeld wider, und der französische Faschist Jean-Marie Le Pen scheiterte mit seiner Tirade, »die Neger« könnten nicht mal die Mar­seillaise auswendig, auf ganzer Linie.

Deutschland jedoch – das Land, dessen Kaiser 1990 verkündet hatte, »über Jahre hinaus unschlagbar« zu sein – schied wie schon 1994 im Viertelfinale aus, diesmal durch ein 0:3 gegen die spielerisch keinesfalls überzeugenden Kroaten. Der Modernisierungsbedarf war nicht zu übersehen. Bundestrainer Berti Vogts erging sich gleichwohl in Verschwörungstheorien: »Wir sind leider daran gehindert worden, weiter im Wettbewerb zu sein. Ich weiß nicht, ob es eine Anordnung gibt. Vielleicht ist einigen der deutsche Fußball zu erfolgreich.«

Das sah selbst die FAZ anders. »Der Slogan ›Weiter so‹ gilt in diesem Wahljahr selbst bei Konservativen als überholt«, stellte sie nach dem Ausscheiden eine Analogie zur Bundestagswahl her, die im WM-Jahr 1998 eine rot-grüne Bundesregierung an die Macht brachte. Auch Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld plädierte für eine Umorientierung: »Holländer und Fran­zosen haben die Kinder von Einwanderern in ihrer Mannschaft. In Deutschland leben Türken, Afrikaner und Osteuropäer. Gucken Sie sich unsere Jugendmannschaften an: Die bestehen zu 50 Prozent aus Ausländerkindern. Wir verzichten also auf die Hälfte unseres Potenzials, wenn es von vorneherein ausgeschlossen ist, die für Deutschland spielen zu lassen.«

Eine gründliche Modernisierung des deut­schen Fußballs erfolgte dennoch nicht. Wäh­rend Rot-Grün den Doppelpass einführte, wurde mit Erich Ribbeck ein schon in Rente gegangener ehemaliger Bundesligatrainer zum Nachfolger des bald nach der WM zurückgetretenen Vogts bestimmt. Ribbeck holte zwar mit Mustafa Dogan widerwillig den ersten türkischstämmigen Spieler in die Nationalelf, setzte ansonsten aber vor allem auf zunehmend in die Jahre gekommene Routiniers wie Lothar Mat­thäus und Andreas Möller. Das ging schief, und nach der verkorksten Europameisterschaft 2000 trat »Sir Erich« zurück.

Als Nachfolger sollte Christoph Daum gewonnen werden, doch sein da­ma­liger Verein, Bayer Leverkusen, ließ ihn zunächst nicht ziehen, weshalb Rudi Völler Interimstrainer wurde. Daum sollte für den Aufbruch stehen, nicht nur, was modernere Trainingsmethoden und was die Anwendung psychologischen Wissens in der unmittelbaren Spielvorbereitung anging. Es ging auch um Daums Internationalität – er hatte mit großem Erfolg in der Türkei gearbeitet –, und es ging um die Emanzipation der Nationalmannschaft vom die Liga so dominierenden FC Bayern Mün­chen.

Der Machtkampf zwischen Leverkusen und dem Rest der Liga auf der einen Seite und Bayern München auf der anderen Seite hatte den Hintergrund, dass Bayern München als die fußballerisch wichtigste Exportmarke Deutschlands weiterhin, wie seit Mitte der sechziger, spätestens Anfang der siebziger Jahre, auch die Na­tio­nal­elf bestimmen wollte, um seinen eigenen Marken- und Marktwert mit den Erfolgen und dem Renommee der Nationalelf zu verknüpfen.

Nachdem Bayern-Manager Uli Hoeneß Gerüchte über den Kokainkonsum von Christoph Daum öffentlich gemacht hatte und der sich mit Hilfe einer extrem dilettantischen Verteidigungsstrategie selbst überführt hatte, war Daum nicht mehr tragbar. Aus dem übrigens auch von Bayer Leverkusen abgestellten Interimstrainer Rudi Völler wurde nun der Dauertrainer: Er bereitete die Nationalelf auf die WM 2002 in Japan und Südkorea vor.

Mit ihm kam die Fußballmodernisierung nun in Schwung, allerdings weniger auf spielerischer Ebene denn vielmehr auf einer ideologischen. Der neue Coach bereitete das Terrain für die neue Form des Fußballnationalismus, wie sie bei der WM 2006 zur Vollendung gelangte. Rudi Völler, Jahrgang 1960, ist, anders als seine Vorgänger, ein Kind der Bundesrepublik. Der Fußball war es, der aus ihm einen weltläufigen Mann machte; von ihm, der lange in Italien gespielt hatte, ging nicht mehr die deutsche Enge und Borniertheit aus, die noch Berti Vogts und Erich Ribbeck verkörperten.

Außerdem erfolgte seine Inthronisierung im gesellschaftlichen Diskurs: Nicht der ob der letzten Misserfolge seiner Souveränität beraubte DFB und auch nicht die Bild-Zeitung dominierten; die Nomi­nierung des allseits beliebten Völler war vielmehr das überraschende Ergebnis einer öffentlichen Diskussion, die als Daum-oder-Hitzfeld-oder-Rehhagel-Diskussion begonnen hatte. Völler erschien als Repräsentant der jüngeren Generation, die nun auch – politische wie fußballerische – Verantwortung übernehmen sollte.

Mit Antonio Gramsci könnte man formulieren, dass das von Rudi Völler repräsentierte neue Regime der Nationalmannschaft das Resultat diskursiver Hegemonie-Erringung war. Etwas einfacher formuliert: Weil alle mitreden und auch mitentscheiden konnten, akzeptierten auch alle das Ergebnis.

Fußballerisch jedoch herrschte weiterhin Stagnation, trotz der überraschenden Vizeweltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea. Das Nationalteam hatte keine Perspektive und schied zwei Jahre später bei der Europameisterschaft sang- und klang­los aus. Völler trat zurück. Bei der anschließenden Suche nach einem Nachfolger hagelte es Absagen, doch der DFB sperrte sich vehement dagegen, erst­mals in seiner Geschichte einen ausländischen Trai­ner – im Gespräch waren vor allem Guus Hiddink und Arsène Wenger – mit der Nationalmannschaft zu betrauen.

Aber auch der von Bild und Beckenbauer favorisierte Lothar Matthäus fiel durch. Nach einer wochenlangen öffentlichen Fahndung fiel die Wahl schließlich auf den seit Jahren in den USA lebenden Jürgen Klinsmann – und damit auf einen, der wie Völler durch den Fußball zum Weltbürger geworden war, im Unterschied zu seinem Vorgänger den Laden jedoch gründlich umkrempeln wollte.

Das sorgte für reichlich Gesprächsstoff. Wo die einen Aufbruchsstimmung und »positive Energie« (DFB-Präsident Theo Zwanziger) bemerkten, warnten andere vor der »Amerikanisierung des deutschen Fußballs« (Welt); wo die einen Klinsmanns radikale »Innovationen« lobten, vermissten andere die Hemdsärmeligkeit eines Rudi Völler. Die Stimmung orientierte sich letztlich an den Ergebnissen: Zunächst waren Fortschritte unverkennbar und die Euphorie groß, dann wieder verfiel die DFB-Elf in den alten Trott und sorgte für Verdruss.

Als die WM im eigenen Land immer näher rückte, die Resultate jedoch zu wünschen übrig ließen, brach Panik aus. In deren Folge wurde wochenlang eine Debatte über Klinsmanns Wohnsitz und seine Berufsauffassung geführt. Selbst die Zeit vermutete den Bundestrainer in einer »amerikanischen Parallelwelt« und hegte Zweifel an seiner Eignung für den nationalen Auftrag.

Dessen ungeachtet setzte Klinsmann im Verbund mit DFB-Präsident Zwanziger, der den deutschnationalen Gerhard Mayer-Vorfelder beerbte, eine Reihe fußballerischer Modernisierungen durch. Die Trainingsmethoden, die Taktik und das Scouting wurden entstaubt und erheblich professionalisiert. Und dass Deutsch­land ein Einwanderungsland ist, spiegelt sich inzwischen mehr und mehr auch in den DFB-Auswahlmannschaften wider. Die WM wurde für den Gastgeber schließlich ein voller Erfolg.

Klinsmann gelang mit seiner Truppe so ganz nebenbei sogar etwas, das bis dato undenkbar war: Er eroberte die Sympathien der Linken, die sich vorher von Spielen der deutschen Mann­schaft überwiegend ferngehalten hatten, nun jedoch Bestandteil des schwarz-rot-goldenen Taumels wurden.

Klinsmann ist kein Deutschnationaler, sondern verkörpert geradezu prototypisch den renovierten Nationalismus der Marke Rot-Grün: ein gewinnend lächelnder Deutscher, der auf die »Vergangenheitsbewältigung« stolz ist, Rassismus schlimm findet und auf Multikulti steht. Wenn Berti Vogts der Helmut Kohl des Fußballs war, war Klinsmanns Entsprechung Joschka Fischer. Und so schlossen auch viele Linke Frieden mit Deutschland, beteiligten sich am »größten Aufmarsch deutscher Fahnen und Symbole seit den Parteitagen in Nürnberg« (Rainer Trampert, Jungle World 28/06) und wiesen jeden zurecht, der dem aggressiven »Party-Patriotismus« nichts abgewinnen mochte.

Besser für einen kritischen Blick auf den Fußball als vor zehn Jahren sind die Zeiten also nicht geworden. Nur moderner.