Wild gewordener Kleinbürger

kommentar von henryk m. broder

Ein Volk, das Dirk Bach komisch findet, über Hella von Sinnen lacht und Florian Silbereisen gewähren lässt, hat keinen Verstand, keine Würde und kein Immunsystem. Ihm ist alles zuzutrauen, auch dass es sich von einem politischen Bluffer und Versager wie Oskar Lafontaine täuschen und verführen lässt. Als Lafontaine Anfang 1999 den SPD-Parteivorsitz hinschmiss, als Bundes­finanzminister aufgab und sich ins Privatleben zurückzog, hätte kein Mensch auch nur eine rote Socke darauf gewettet, dass dieser Mann jemals ein Comeback erleben würde. Er hatte dermaßen abgewirtschaftet, war dermaßen out und fertig, dass Karl Moik bessere Aussichten gehabt hätte, die Tagesthemen moderieren zu dürfen, als Lafontaine, auf die Politik-Bühne zurückzukehren. Dass er es dennoch (beinahe) geschafft hat und zu einer Figur werden konnte, die zu Talkshows eingeladen wird und die SPD das Fürchten lehrt, hat er nicht nur seinem demagogischen Talent zu verdanken, sondern vor allem der selektiven Gedächtnisschwäche der Deutschen, die sich noch nach über 5o Jahren an jede Phase des »Wunders von Bern« erinnern können, aber keinen Schimmer mehr davon haben, was Lafontaine alles angestellt hat.

Vergessen ist, dass er als Ministerpräsident des Saarlandes wie ein kleiner Diktator regierte, der »die Schweinepresse« an die kurze Leine zu nehmen versuchte – mit einem Pressegesetz, das ein Recht auf Gegendarstellung bei Kommentaren (!) und sogar Fotos (!!!) durchsetzen sollte. Vergessen ist, dass er Verständnis für das Ende des Prager Frühlings durch die Sowjetarmee äußerte, die deutsche Einheit aus Kostengründen absagen wollte und gegen »Fremdarbeiter« agitierte, die deutschen Arbeitern die Arbeitsplätze wegnehmen würden. All das hat ihn weder politisch diskreditiert noch als Linken unglaubwürdig gemacht.

Es stört seine Anhänger auch nicht, dass Lafontaine kein Politiker, sondern ein Egomane ist, der die Politik benutzt wie ein Einbrecher das Brecheisen: um sich den Einstieg in einem Raum zu verschaffen, zu dem ihm sonst der Eintritt verwehrt wäre. Was Lafontaine umtreibt, ist nicht das Schicksal der Arbeitslosen und der Hartz-IV-Empfänger, es ist sein Wunsch, sich an der SPD zu rächen. Er könnte es schaffen, denn er verkörpert den wild gewordenen Kleinbürger, in dessen Brust zwei Seelen schlagen: Die eine möchte von einer starken Hand geführt werden, die andere »denen da oben« den Stinkefinger zeigen. Lafontaine bietet beide Optionen gleichzeitig an: Wer ihn wählt, der riskiert nichts, beweist sich aber, wie unangepasst er ist. Lafo: Das ist der Sturm im Weinglas, die Revolution in der Poggenpohlküche, die Seifenkiste auf dem Formel-1-Kurs. Er wird das Rennen nicht machen – aber anderen die Tour vermasseln, das schafft er allemal.