Um sein Leben schreiben

Im deutschen Exil begann Dogan Akhanli, als Schriftsteller zu arbeiten, um seine Erlebnisse in türkischen Gefängnissen zu bewältigen. Der ehemalige Linksaktivist verfasste den ersten Roman eines Türken über den Völkermord an den Armeniern. Von susanne gannot

Mit 18 Jahren kam er zum ersten Mal ins Gefängnis. Weil er 1975 an einem Kiosk eine linke Zeitung gekauft hatte, wurde Dogan Akhanli von der Polizei verprügelt und saß in Istanbul fünf Monate in Untersuchungshaft. Bei seinem Prozess wurde er zwar freigesprochen. »Aber seitdem war mein Vertrauen in den türkischen Staat vollkommen erschüttert. Das hat mein ganzes weiteres Leben bestimmt.« Akhanli schloss sich der linken Gruppe Halkin Kurtulusu (Befreiung des Volkes) an. Als 1980 der Militärputsch kam, ging er in den Untergrund. Es folgte eine schier endlose Odyssee mit Folter, Gefängnis, Entlassung, neuem Prozess. 1992 floh er nach Köln. Versuchte mit all dem abzuschließen, zog sich zurück, schwieg. Dann wurde er Schriftsteller. 1998/99 erschien seine Romantrilogie »Kayip Denizler« (Die verschwundenen Meere) bei einem Istanbuler Verlag. Jetzt ist erstmals eines seiner Bücher auf Deutsch erschienen: »Die Richter des jüngsten Gerichts«, eine Geschichte über den Völkermord an den Armeniern.

Eigentlich wollte Akhanli immer schon schreiben. Seine Mutter, erzählt er, hat ihm und seinen vier Geschwistern von klein auf vorgelesen: »So habe ich die ganzen Klassiker, von Thomas Mann bis Dostojewski, kennen gelernt.« Dass er später Schriftsteller geworden ist, habe auch damit zu tun. Aber als er Mitte der neunziger Jahre in Köln anfing zu schreiben, war es zunächst eher aus therapeutischen Gründen: »Ich musste einen Weg finden, mich mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen. Aber ich konnte es nicht als Erinnerung schreiben, so mutig war ich nicht. Darum habe ich die Romanform gewählt.« Denn so, erklärt der 50jährige, könne er von außen auf die Welt schauen und auf seine Protagonisten, die wie erfundene Romanfiguren wirken, »dabei sind sie ein Teil von mir«. Durch diese Distanz habe er seine Vergangenheit aufarbeiten können.

Tatsächlich bietet Akhanlis Leben Stoff für ein Dutzend Romane. Als die Militärs an die Macht kamen, studierte der Lehrersohn Geschichte und Pädagogik in Trabzon am Schwarzen Meer. Am 12. September 1980, an dem Tag, an dem das Militär sich an die Macht putschte, tauchte Akhanli unter. Er organisierte Demonstrationen, druckte Flugblätter und Zeitungen – fast fünf Jahre lang. Der größte Teil der Zeitung wurde in Köln vorbereitet. »Wir hatten ein gut organisiertes Netzwerk, deshalb haben wir so lange durchgehalten«, erzählt er.

Am 18. Mai 1985 wurde Akhanli verhaftet – zusammen mit seiner Frau Ayse und dem 16 Monate alten Sohn. Zehn Tage wurden die Eheleute im Beisein des Kindes verhört und gefoltert. Ayse Akhanli und der Sohn wurden dabei so schwer verletzt, dass sie ins Militärkrankenhaus gebracht werden mussten. An dieser Stelle gerät Akhanlis Erzählung ins Stocken. Immer wieder bricht er ab, sucht nach Worten für das Unbeschreibliche, fährt ratlos mit den Händen durch die Luft. »Mein Sohn musste zugucken, wie seine Mutter und sein Vater gequält wurden. Ich konnte nichts sehen, ich konnte nur hören, wie er weint. Das war natürlich eine sehr traumatische Erfahrung für mich, für uns alle.« Zweieinhalb Jahre saß die Familie – getrennt – in Haft.

Nach der Entlassung im September 1987 sagte sich Akhanli von seinen Genossen und der Revolutionären Kommunistischen Partei der Türkei los. »Ich wusste nicht mehr, was richtig ist und was falsch. Es war viel passiert, aber es gab in der Gruppe keine Möglichkeit einer offenen Diskussion. Das war mir alles zu orthodox, zu totalitär. Man wollte Demokratie, aber die eigene Struktur war undemokratisch.« Er zog sich zurück, lebte mit seiner Familie in Antalya, in Izmir, später wieder in Istanbul. »Ich habe versucht, ein einfaches Leben zu führen, in einer Ecke, unsichtbar.« Der ehemalige Linksaktivist wurde Fischer und Instrumentenbauer, ein zweites Kind kam, eine Tochter. Dann verloren Akhanli und seine Frau ihre Berufungsprozesse. Weil damit die erneute Verhaftung drohte, tauchten sie unter. »Damals gab es zwar offizell keine Militärregierung mehr, aber de facto war es eine Kriegsregierung. Der Krieg gegen die Kurden kostete viele Opfer, die Stimmung gegen Andersdenkende war schlecht – es gab viele extralegale Hinrichtungen, Verschwindenlassen und andere Menschenrechtsverletzungen«, erklärt der Schriftsteller, der damals um sein Le­ben und das seiner Familie fürchtete. 1992 gelang dann die Flucht mit Hilfe eines alten Freun­des, der schon länger in Köln im Exil lebte.

Diese Erlebnisse und die politischen Ereignisse in der Türkei in den siebziger und achtziger Jahren hat Akhanli in seinen ersten beiden Romanen »Denizi Beklerken« (Warten auf das Meer) und »Gelincik Tarlasi« (Das Mohnblumenfeld) verarbeitet. »Kiyamet Günü Yargiclari« (Die Richter des jüngsten Gerichts), das nun auf Deutsch erschienen ist, schließt die Romantrilogie ab.

Dieser Band behandelt, sozusagen als Vorgeschichte, den Völkermord an den Armeniern von 1915/16. Rahmenhandlung ist die Geschich­te eines jungen Manns, der mit Frau und Kind kurz nach dem Militärputsch 1980 untergetaucht ist. Ein väterlicher Freund, Ümit Bey, nimmt ihn mit auf eine Reise in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Dabei wechselt Ümit, der Märchenerzähler, ständig die Perspektive. So findet er sich einmal wieder als armenischer Junge, der unter der Leiche seines ermordeten Bruders liegt. Dann ist er ein türkischer Offizier, der einem der drei damals regierenden Diktatoren das Leben rettet, die den Völkermord an den Armeniern planen und durchführen. Und schließlich, nach einer weiteren Zeitreise, ist Ümit angeklagt, Talat Pascha, einen der Diktatoren, 1921 in dessen Berliner Exil erschossen zu haben.

Was der Leser nicht weiß, wenn er die ersten beiden Bände der Trilogie nicht kennt: Der junge Mann, dem Ümit Bey all dies erzählt, taucht im ersten Roman auf als einer jener vielen jungen Menschen, die während der Militärdiktatur in den achtziger Jahren »verschwanden« und ermordet wurden. »Ich wollte mit diesem Buch eine Verbindung herstellen zwischen den Verschwundenen von vor fast 100 Jahren und denen in meiner Zeit«, erklärt Akhanli. »Ich hatte selbst Gewalt erfahren und fragte mich wieso, wie konnte das passieren. Und irgendwann entdeckte ich, dass ich nicht das einzige Opfer gewesen bin. Das war für mich sehr wichtig.«

Aber es gab auch ganz persönliche Gründe für die Auseinandersetzung mit dem Thema: Da waren zum einen die Erzählungen über die »verschwundenen« armenischen Nachbarn im Dorf der Kindheit. Da war zum anderen die Groß­tante, die einen Ring hatte mit eingraviertem »U« – genau so, wie ihn eine der Hauptfiguren in »Die Richter« trägt. Die Tante, erzählt Akhanli, hat immer gesagt, dieser Ring sei von einer Armenierin. »Ich habe sie leider nie gefragt, wie sie an den Ring kam.« Und so hat er die mögliche Geschichte dieses Ringes als Ausgangspunkt für seinen Roman genommen.

Das Buch, das 1999 in Istanbul erschien, machte den schmächtigen Mann in der Türkei auf einen Schlag berühmt und berüchtigt. Denn es war damals der erste Roman eines Türken über dieses Thema – und im Land am Bosporus ist der Völkermord an den Armeniern nach wie vor ein Tabu. Die Berliner Historikerin Tessa Hofmann, die das Vorwort zur deutschen Ausgabe geschrieben hat, erzählt: »In den Massenmedien wurde Akhanli beschimpft als ›armenischer Bastard‹ – wegen seines Geburtsorts Savsat im Nordosten, an der georgischen Grenze, wo früher viele Armenier lebten.« Von offizieller Seite habe man gleichzeitig versucht das Buch totzuschweigen. Darum sei Akhanli auch nicht unter die berüchtigte Anklage »Verunglimpfung des Türkentums« gestellt worden, im Gegensatz zu anderen Kollegen, die später das verbotene Thema anrührten – etwa die Autorin Elif Safak, der Journalist Hrant Dink oder der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. »Stattdessen fiel Akhanli in das Bermudadreieck des Schweigens«, sagt die Expertin für den Arme­nien-Genozid.

In Deutschland wird Akhanli, der sich im türkischen Menschenrechtsverein Tüday und beim Kölner Appell gegen Rassismus engagiert, bis heute gelegentlich von nationalistischen Türken verbal angegriffen. Organisierte Rechte, etwa von den »Grauen Wölfen«, stören immer wieder Veranstaltungen zum Thema Arme­nien, bei denen er spricht. Andererseits trifft Akhanli hier auch auf ehemalige Landsleute – seit 2001 hat er die deutsche Staatsbürgerschaft –, die bereit sind, das Tabu zu brechen. Etwa bei seinen Führungen in türkischer Sprache im Kölner Elde-Haus, der ehemaligen Gestapo-­Zentrale und heutigen NS-Gedenkstätte: Dort spricht der Schriftsteller vor allem über die historischen Verbindungen zwischen der deutschen und der türkischen Vernichtungspolitik. So erzählt er seinen türkischen Zuhörern, dass der spätere Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß 1915 türkische Lager in Mesopotamien besucht oder dass Hitlers Außenminister Joachim Ribbentrop damals eine türkische Armee befehligt hat. »Bislang habe ich deswegen noch nie Ärger bekommen, die Leute sind eher schockiert, und wir kommen in eine offene Diskussion.«

Das Thema Shoa ist für Akhanli aber auch deshalb wichtig, weil er die Art und Weise, wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen, als modellhaft empfindet. So wie hier­zulande die Enkel kritisch mit ihren Großeltern umgegangen sind, so sollte sich auch die Türkei endlich ihrer Vergangenheit stellen, findet er. Wie das gehen kann und wie die Türkei von den deutschen Erfahrungen lernen kann, hat Akhanli in seinem vierten Buch, dem 2005 in der Türkei erschienenen Roman »Madonna’nin Son Hayali« (Der letzte Traum der Madonna) beschrieben. Darin geht es um ein Schiff mit jüdischen Flüchtlingen, das 1942 im Schwarzen Meer versinkt – und um das Gedenken daran im Deutschland von heute.

Und doch hat das Von-der-Seele-Schreiben nur begrenzt funktioniert: Bis heute hat der Schriftsteller mit Depressionen und Albträumen zu kämpfen. »Wer einmal gefoltert wurde, den lässt das nie mehr los«, sagt er. Immerhin kann er heute auch über andere Themen schreiben. So entwickelt er zurzeit Drehbücher für die Krimi-Serie eines türkischen Fernsehsenders. Und seine beiden nächsten literarischen Projekte hat der manische Schreiber auch schon im Kopf. »Erst kommt eine Liebesgeschichte und dann ein Roman über Fußball: ›Weinen für Brasilien‹.«

Dogan Akhanli: Die Ritter des jüngsten Gerichts. Kitab, Klagenfurt 2007, 240 Seiten, 22 Euro