Zur Arbeit geh’ ich meilenweit

Die Erwerbslosenquote in der EU ist leicht gesunken. Der Trend geht in Richtung von Wohlstandsregionen mit hoher Beschäftigung und entvölkerten Peripherien ohne nennenswerte Perspektiven. von lutz getzschmann

Meldungen über gesunkene Arbeitslosenzahlen in der EU helfen, Optimismus zu verbreiten. Sieht man sich allerdings genauer an, wie diese Zahlen zustande kommen, ergibt sich ein etwas differenzierteres Bild. Allein schon die Definition von Arbeitslosigkeit, die die europäische Statistikbehörde Eurostat zugrunde legt, lässt einigen Spielraum für Spekulationen. Arbeitslos sind demnach Personen zwischen 15 und 74 Jahren, die »ohne Arbeit« sind, in den nächsten vier Wochen eine Arbeit aufnehmen könnten und in den letzten vier Wochen eine Arbeit gesucht haben. Auf der Basis der Erwerbslosenstatistiken der EU-Länder wird nach diesen Kriterien dann eine EU-Arbeitslosenquote erstellt. Dabei fallen natürlich nicht wenige aus der Statistik.

Anfang Juli gab Eurostat bekannt, dass die Er­werbs­losenquote im April auf sieben Prozent im Vergleich zu 7,9 Prozent im Vorjahresmonat gesunken sei. Von den 26 EU-Staaten hätten 22 im vergangenen Jahr einen Rückgang der Erwerbslosenzahlen verbuchen können. Am niedrigsten war die Zahl der Arbeitslosen in den Niederlanden und Dänemark mit 3,2 bzw. 3,3 Prozent, am höchs­ten in der Slowakei (10,8 Prozent) und in Polen (10,5 Prozent).

Und um die diversen nationalen Definitionen von Erwerbslosigkeit überhaupt vergleichbar zu machen, müssen auch noch ein paar statistische Tricks herhalten. Für Deutschland etwa wurde die ILO-Telefonerhebung des Statistischen Bundesamts zugrunde gelegt. Dabei werden auch Beschäftigungsverhältnisse von nur sehr geringem zeitlichem Umfang zu den Erwerbstätigkeiten gezählt. So kommt man für den Monat April auf eine Erwerbslosenquote von 6,6 Prozent, was im Vergleich zu den von der Arbeitsagentur bekannt­gegebenen 8,8 Prozent eine deutliche Differenz darstellt.

Selbst wenn diese Zahlen mit einigem Misstrauen zu betrachten sind, gibt es aber offensichtlich einen Anstieg der Erwerbstätigkeit in der EU. Dies legt zumindest ein weiterer Eurostat-Bericht nahe, der auf der EU-Arbeitskräfteerhebung 2006 beruht und demzufolge allein die Erwerbstätigenquote der Frauen von 53,7 Prozent im Jahr 2000 auf 57,2 Prozent im Jahr 2006 gestiegen ist. Deutlich werden allerdings auch hier gravierende regionale Unterschiede. So haben Dänemark, Schweden, die Niederlande und Großbritannien die mit Abstand höchsten Erwerbstätigenquoten mit deutlich über 70 Prozent aller Einwohner­innen und Einwohner zwischen 15 und 64 Jahren, Länder wie Polen, Rumänien und Bulgarien liegen hier mit Werten von unter 60 Prozent am Ende der Skala. Die Erwerbstätigenquote von Frauen liegt in Polen, Griechenland und Italien bei unter 50 Prozent.

All dies sagt aber nichts über regionale Differenzen in den einzelnen Ländern aus, die jedoch von zunehmender Bedeutung sind. Auf dem Weg zum grenzenlos flexiblen Lohnarbeiter soll auch die grenzüberschreitende Arbeitsmigration innerhalb der EU gefördert werden. Das Jahr 2006 war von der EU-Kommission zum »Europäischen Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer« ausgerufen worden, ein Internetportal mit EU-weiten Stellenangeboten wurde eingerichtet, und mit allerlei PR-Aktionen wurde versucht, Menschen dazu zu bewegen, für einen Job auch viele Meilen weit zu gehen und sich im EU-Ausland zu bewerben.

Zum Ende des Jahres wurde dann eine eher ernüchternde Bilanz gezogen. Nur etwa jede 20. Bewerbung um einen Arbeitsplatz komme EU-weit von einem ausländischen Bewerber, stellte die mit der begleitenden Studie beauftragte Unternehmensberatung Pricewaterhouse Coopers fest. Verantwortlich seien dafür zum einen bürokratische Hindernisse wie unterschiedliche Steuer- und Sozialsysteme sowie Probleme mit der Anerkennung unterschiedlicher Ausbildungsabschlüsse, zum anderen aber auch mangelnde Sprachkenntnisse und die »fehlende Bereitschaft« der Arbeitssuchenden, auch in einem anderen EU-Land auf Arbeitssuche zu gehen. So gaben in einer Studie 40 Prozent der befragten Arbeitnehmer an, der wichtigste Hinderungsgrund für einen Ortswechsel sei die Angst vor dem Verlust sozialer Bindungen.

Auch bei dieser Studie zeigen sich beträchtliche länderspezifische Unterschiede. EU-weit arbeiten demnach zwei Prozent aller Beschäftigten außerhalb ihres Herkunftslandes. Rund 15 Prozent aller befragten Iren und elf Prozent der Dänen gaben an, schon einmal im Ausland gearbeitet zu haben, jedoch nur acht Prozent der Deutschen. Umgekehrt ist gerade Irland, wie auch Großbritannien, mittlerweile zu einem Hauptziel polnischer Arbeitsmigration geworden. Und Polen ist auch eines der Länder, in denen derzeit ein Exodus qualifizierter Arbeiter in Richtung Westen stattfindet.

Bei insgesamt rückläufigen Bevölkerungszahlen kommt es zu einer Polarisierung: zwischen Wohl­standsregionen mit hoher Beschäftigung und einer Arbeitsmarktstruktur aus minoritären Kernbelegschaften und einem goßen Spektrum prekarisierter und flexibilisierter Arbeitsverhältnisse einerseits sowie entvölkerten Peripherien ohne nennenswerte ökonomische und soziale Perspektiven andererseits. Zu einer solchen Polarisierung kommt es auch zwischen den Regionen innerhalb der einzelnen Länder. Frankfurt am Main hat mit Prag und Lissabon strukturell mehr gemeinsam als mit Schwedt oder Neuruppin.

Nachdem sich herausgestellt hat, dass die EU-Osterweiterung den westeuropäischen »Kernländern« Vorteile bringt, anstatt, wie noch vor zwei Jahren befürchtet, erhöhten Druck durch Billigkonkurrenz, bemühen sich westeuropäische Regierungen nun darum, den in einigen Bereichen bestehenden Arbeitskräftemangel auszugleichen. Da europaweit die Grenzen dicht gemacht werden für Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern, richtet sich der Blick hierbei vor allem auf Osteuropa. So deutete vorige Woche Gerd Andres, Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, an, dass erwogen werde, den deutschen Arbeitsmarkt, anders als ursprünglich geplant, bereits vor 2009 für osteuropäische Arbeitskräfte zu öffnen, so etwa für Erntehelfer, Ingenieure oder in Branchen, in denen Fachkräftemangel herrscht.

Ob das allein aber ausreicht, um etwa die 300 000 polnischen Erntehelfer wieder zurückzuholen, die in diesem Jahr auf den Saisoneinsatz in Deutschland verzichten, darf bezweifelt werden. Denn deren Ausbleiben dürfte, wie auch Andres einräumt, in erster Linie mit den erbärmlichen Löhnen zusammenhängen.