Die Semmelknödel-Verwandtschaft

Warum Bayern im neuen Biedermeier der Ära Merkel stört. von georg seeßlen

Unter der Herrschaft des Alten Mädchens hat sich eine behäbig-unbehagliche Ruhe über das Land gelegt. Es geht uns irgendwie gut oder doch nicht ganz so schlecht, und seht, wir vergessen über dem Wachstum der Familie auch die Sorgen der einzelnen nicht ganz. Der schmerzhafte Umbau der Gesellschaft ist vollbracht, die neuen Klassen ganz oben und ganz unten sind erzeugt. Über die innere Gewalt dieses Vorgangs der Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer von unten nach oben (unter trügerischer Inpflichtnahme der Mitte) legt die Biedermacht des Alten Mädchens, des Parteisoldaten und ihrer geordneten Entourage nun bescheidene Besorgnis und kleine Wohltat. Der neue Kapitalismus soll nach seinem brachialen Sieg wieder lächeln lernen, wenigstens in die Kinderkrippen hinein. (Und fort mit allem berlusconischen Haifischgrinsen!) Wir wollen sein ein bieder Volk von Klimaschützern und Mindestlohnbefürwortern.

Das Alte Mädchen hat sich die letzte große Erzählung des Kleinbürgertums, die Klimakatas­tro­phe, zu eigen gemacht, wie eine ältere Schwester, die der moralischen Revolte der Kleinen einen Drall ins Pragmatische gibt, und das Alte Mädchen hat sich den Kampf gegen diese Katastrophe zu eigen gemacht – als letztes Gutes (und sie tut es). Man ahnt, was das Wort Restauration auch bedeuten kann; und wie in allen Phasen der Restauration kann unter dem Konsens des Biedersinns das Unheimliche nur wachsen. Mürrisch und aufgedreht sucht der Sozialdemokrat Onkel Bräsig seinen verlorenen Schatten, beschäf­tigt sich die Linke mit ihren Wiedergängern. Der schwäbische Dr. Seltsam fordert Folter und Überwachung, damit wir es gemütlicher haben. Geld fließt auf seltsamen Wegen, nach wie vor, doch in der Restaurationsphase wird die Gier ein wenig abgemildert. Am Tisch des Alten Mädchens wird, wer sich verschluckt, weil er nicht genug bekommen kann, unnachsichtig mit Entzug des Nachtischs bestraft. Das Alte Mädchen, der Par­teisoldat, Onkel Bräsig und der schwäbische Dr. Seltsam machen es vor: Die neue Herrschaft steht nicht im Zeichen von Genuss und Expansion, sondern im Zeichen von Vorsorge und Ordnung. Es herrscht Ruhe im res­taurierten Land.

Im ganzen Land? Nein, im südlichen Teil der Fami­lie, der schon immer etwas eigen war, rumort es. Die haben so etwas Permanederhaftes, so was missglückt Eingeheiratetes, alte Sitten und neuer Reichtum. Alois Permaneder war der Ruin der Buddenbrooks; Permaneders Enkel drohen die Familie des Neobiedermeier zu ruinieren. Keiner mag sie wirklich, immer sind sie entweder zu laut oder zu verdruckst. Immer benehmen sie sich entweder daneben oder sind nicht da, wenn man sie braucht. Niemand hat vergessen, wie der streberhafte Permaneder-Erbe Stoiber den Familientisch verließ, unter dem fadenscheinigen Vorwand, man brauche ihn zuhause auf den Feldern. Reich sind sie ja, aber sie können nicht umgehen mit ihrem Reichtum. Es kommt eben doch immer wieder das Bäuerische in ihnen durch. Aber was will man machen? Sie gehören zur Familie.

Das Problem mit dem südlichen Teil der Familie, der besser unter sich bleibt, liegt darin, dass sie ihre Komödienstadel nicht lassen können. Es kommt ihnen, um es genau zu sagen, immer so eine bäuerische Triebhaftigkeit mit der katholischen Bigotterie (die hier übrigens die Protestanten nicht weniger betreiben) in die Quere. Es ist, noch genauer, die südliche Sexua­lität, die die restaurative Herrschaft des Alten Mädchens im Zeichen eines neuen Biedermeier behindert. Merkel und Münte haben den Diskurs der politischen Herrschaft wohltuend entsexualisiert; es ist die Voraussetzung des neuen Bieder­meiers: Macht macht nicht geil! (Jedenfalls nicht so, dass man es sieht.) Macht macht aber auch nicht asketenpervers. (Jedenfalls nicht, na, lassen wir das.) Und wieder mal hat sich die bayrische Mischpoche nicht daran gehalten!

Nicht genug damit, dass ihr neuer Nationalheiliger Söder, eine Art lebender Semmelknödel, der wahlweise als Pfarrer, Polizist oder Journalist im Leitmedium auftritt und milde Scherze über seine Heimat macht (sagen Sie nur »Amigo« oder »Spezeln«, und beifallendes Gelächter ist Ihnen sicher), sich von einem »Flitscherl« (so heißt das hier) verladen lässt, auch einer der Erbschaftskandidaten für den Streber hat sich gleich ein zweites Weib angeschafft, mitsamt einem Kind, und die Landratsdame, welche den Streber, wie man so sagt, zu Fall gebracht hat, lässt sich in einem Herrenmagazin in Latex als Domina ablichten. Sodom und Gomorrha!

Aber mei, so sand mir halt: bajuwarisch-barock. Der Diskurs der Macht lässt sich hier beim besten Willen und schon gar nicht wohltuend ent­sexualisieren. Das Seltsame an der bayrischen Familie aber ist nicht, wie es da sexuell drunter und drüber geht. Das Seltsame ist, wie das Drüber und manchmal auch das Drunter aus der Welt geschafft wird. Der lebende Semmelknödel fleht in der Zeitung seine Familie an, ihn wieder aufzunehmen, der Dr. Seehofer kehrt seiner praktischen Zweitfamilie aus moralisch-politischen Karrieregründen den Rücken, und die Landratsdame verklagt gleich das Herrenmagazin, weil sie doch nicht hat wissen können, dass Latex irgendwie eine Schweinerei sein kann. Unter der Hand (oder sonstwo) wird daher aus der sexuellen eine politische Metapher: Mache die eine oder die andere Sauerei, aber sorge dafür, dass man dich im Anschluss wieder in der Familienmitte aufnimmt.

Der südliche Teil der Familie hat das Sündigen und Beichten zu einer medialen Meisterschaft gebracht, die jenseits der Kirchtürme so leicht nicht zu verstehen ist. Deshalb kann in den Sendungen des nationalheiligen Semmelknödels auch ganz offen von Korruption, von der Mafia zwischen Politik, Wirtschaft und Kirche gesprochen werden, wir müssen uns da gar nichts vormachen. Man muss es nur lustig machen. Der sexuelle Komödienstadel ist daher nicht etwa eine Entgleisung der mafiösen Herrschaft des bayrischen Zweigs der Familie, sondern vielmehr ein unverzichtbarer Teil. Der sexuelle Komödien­stadel Bayerns ist unsere Form von Ideologie; gell, da seid’s neidisch.

Die Dialektik zwischen Sauerei und Bigotterie im Süden aber ist komplizierter, als es den Anschein hat. Sie betrifft nämlich zugleich auch weitere Widersprüche der Regionen, der Generationen und der Geschlechter. Die süddeutsche Frau, zum Beispiel, ist sinnlich und züchtig (auch was sie anbelangt, spielen Semmelknödel eine gewisse Rolle). Weswegen zum Beispiel eine Prinzessin von Thurn und Taxispils, die sehr aufgebrezelt daherkommt und auch noch Gloria heißt, dem armen Teil der Menschheit rät, einfach weniger zu schnackseln. Stellen Sie sich Marie Antoinette vor, die dem armen Teil der Menschheit, der kein Brot hat, rät, einfach Kuchen zu essen: Wie kultiviert! Marie Antoinette wurde geköpft. Fürstin Gloria von Thurn und Taxis hat ihren Kopf noch auf, so viel ich weiß (und wenn Sie nicht wissen, wozu, dann haben Sie keinen Fernseher).

Ich erwähne die Fürstin aus familiären Gründen, nämlich weil einerseits Aristokratie und Wahnsinn in Bayern eine so schöne gemeinsame Tradition haben, dass jede bürgerliche Familie, sobald man es zu irgendwas gebracht hat, das nachmachen muss, nämlich wahnsinnig und geschäftstüchtig zugleich zu sein (was zum Beispiel die Form einer Magnetschwebebahn annehmen kann, die ja auch nicht hässlicher ist als dem König Ludwig seine Schlösser, oder?), und weil andererseits der südliche Teil der Familie eine so gänzlich andere Struktur hat (für jemanden wie Angela Merkel muss die Innere Mongolei kulturell sehr viel näher liegen als das Land von Streber, Knödel und der Schnackselprinzessin). Das Alte Mädchen konstruiert die Familie durch die Ordnung, die sie ihr gibt (teils wie ein Geschenk, teils wie eine Pflicht); im Süden dagegen gelangt die Herrschaft zu ihrer Stabilität durch das permanente Chaos, das die Familie anrichtet. Jeder ist verrückt, korrupt, kriminell oder zwanghaft, aber gemeinsam sind sie unwiderstehlich. Diese beiden Konzepte der familiären Herrschaft aber widersprechen einander. Das neue Biedermeier des Alten Mädchens, dem sich doch kein wohlmeinender Mensch entziehen kann, kann am wenigsten das sexuell-bigotte Kuddelmuddel aus dem Süden brauchen.

Der Streber war ja eine falsche Antwort auf den Permaneder der bundesrepublikanischen Urzeit; die Straußschen Kinder (politisch-ökonomische Semmelknödeln in verschiedenen Ver­falls­stadien) ließen die Herrschaftsform des Südens, Sauerei und Bigotterie, in ihre Einzelteile zerfallen, der Genuss der Macht gelang ihnen nicht (jedenfalls nicht so, dass man es sieht). Der Streber schien in dieser Situation das Rechte, um auch hier erst einmal wieder Ruhe zu erzeugen. Die sexuellen Schauwerte der Macht wurden gleichsam ausgelagert; so ließ sich zum Beispiel ein beliebter Volksschauspieler Rosen in den Arsch schieben und dann ermorden oder ein Trendsetter mit Hund (ein ondulierter Semmelknödel) mit dem Taxi zum Klo fahren und dann auch ermorden. Es ist nicht so, dass anderswo keine Sexskandale und Morde stattfänden, oh nein, aber nur in Bayern sind sie so augenscheinlich Teil der familiären Herrschaft und des volkstümlichen Diskurses. Der Streber also war irgendwie nicht so. Wenn er noch gescheit Deutsch gelernt hätte, dann hätte man ihn für einen aufrechten Volksschullehrer halten können.

Aber eben! Das Permanederhafte dieses Zweiges der Familie verlangt die Expansion. Man soll nach Berlin wollen und es denen zeigen, obwohl man es eigentlich nicht wirklich will. Der Streber hatte seinen festen Platz an der Hoftafel des Alten Mädchens, aber anstatt sich anständig daneben zu benehmen, bekam er Angst. Als hätten alle zu sehr geschaut, ob er auch die Gabel in die richtige Hand nimmt. Der Streber kehrte zurück, und der ganze südliche Teil der Familie litt seitdem wieder einmal unter Minderwertigkeitskom­plexen. Die größte Kunst der Moderation, die das Alte Mädchen seitdem im nationalen wie im internationalen Rahmen so glänzend unter Beweis gestellt hat, muss dramatisch scheitern an den wechselhaften Ausbrüchen von Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen der südlichen Fami­lie. Die absurde Stabilität der Herrschaft in Bayern, die sich, neben der mafiösen Struktur der Familienherrschaft, eben dieser Ur-Neurose des Landes verdankt, wird paradoxerweise zur größten Gefahr für die Herrschaft des neuen Biedermeier: Angela Merkel kann alle möglichen Kräfte »ins Boot holen« (von den einst irgendwie aufmüpfigen Grünen bis zu mehr oder weniger wild gewordenen Neoliberalen), kann andere, wie Onkel Bräsig, brav grummelnd in der Ecke sitzen lassen und ringt in den Scheinerfolgen ihrer Moderationen selbst den »entschiedensten Gegnern Respekt ab«. Mit der bayrischen Verwandtschaft wird sie indes niemals fertig. Wie auch? Sie kann nicht verstehen, dass deren Krankheit gerade ihre Stärke ist, dass sie sich immer genau richtig daneben benehmen, dass jede Bürgerfamilie früher oder später ihren Permaneder bekommt.

Dass dem Streber sowohl der zerknitterte Halb­bayer (Dr. Seltsams leutseliger Vetter aus der Pro­vinz) als auch der smarte Doppelfamilienbesitzer (die Erfüllung von Laptop und Lederhosen-Strate­gie, kann über alles reden) nachfolgen könnten, ist kein Problem, sondern die genau richtige fol­kloristisch-symbolische Inszenierung von familiärer Politik. Beckstein und Seehofer vereinen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, Züge des barocken Barbaren und des zögernden Strebers, Modernisieren und Zurückbleiben, Mitmachen und Draußenbleiben. Der zögernde Streber und der scheiternde Barbar treffen in immer neuen Mischungen, Allianzen und Konkurrenzen aufeinander, das macht die Familie daheim unschlagbar, und draußen so unerträglich. Wie man so sagt: Es gibt nichts Harmonischeres als die Familie. Wenn bloß die Verwandtschaft nicht wäre.