Erst abreißen, dann klagen

Putins Prestigeprojekt, die Olympischen Winterspiele in Sotschi, wird unter anderem mit illegalen Abrissen und Enteignungen ohne Einspruchsmöglichkeit auf den Weg gebracht. von ute weinmann, moskau

Der Countdown läuft. Ganze sechs Jahre lang. Bis zum Jahr 2013 sollen alle olympischen Objekte im russischen Schwarzmeer-Kurort Sotschi und in den benachbarten Wintersportgebieten im Kaukasus fertiggestellt sein. So will es der russische Präsident Wladimir Putin.

»Die Zeit ist knapp«, erklärte er Anfang Oktober auf einer Sitzung des neu gegründeten Rates zur Vorbereitung der olympischen Winterspiele 2014. Dieser trägt, wörtlich übersetzt, die sperrige Bezeichnung »Rat für die Entwicklung des Turnens und Sports, des Hochleistungssports, für die Vorbereitung und Durchführung der 22. Olympischen Winterspiele und der 11. paraolympischen Winterspiele 2014 in Sotschi«. Den Vorsitz nimmt selbstredend das Staatsoberhaupt persönlich ein, zumindest bis zum Ende seiner Amtszeit.

Die Jubelfeiern im Juli anlässlich der überraschenden Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) zugunsten des vor der entscheidenden Runde lediglich an dritter Stelle platzierten russischen Vorschlags waren kaum abgeklungen, da stiegen praktisch über Nacht die Preise in der Region. Nicht nur für Kartoffeln und andere Grundnahrungsmittel mussten plötzlich spürbar mehr Rubel auf den Tisch gelegt werden, sondern auch für Zement. Das Geschäft mit Baumaterialien dürfte in den kommenden Jahren so lukrativ wie nie zuvor werden. Die Preise für Wohnimmobilien schnellten innerhalb einer Woche um 20 Prozent in die Höhe, drei Tage später erreichte der Anstieg bereits die 30-Prozent-Marke. Und das, obwohl der Bauzustand der meisten Gebäude als höchst mangelhaft eingestuft werden muss.

Aber Reichtum wird dieser Preisanstieg den Besitzern der maroden Häuschen wohl dennoch kaum bescheren. In den vom Olympiabebauungs­plan betroffenen Gebieten haben die Menschen Angst vor Enteignung. Prognosen gehen davon aus, dass sich die Bewohner von mindestens 1 500 Wohnhäusern eine neue Unterkunft werden suchen und ihr Eigentum für fast nichts werden verkaufen müssen. Immobilienfirmen taxieren momentan zwar selbst das baufälligste Einfamilienhaus auf umgerechnet etwa 145 000 Euro – vom Staat werden sie jedoch höchstens ein Zehntel bekommen.

Den Gerichten in Sotschi steht viel Arbeit bevor. Bereits Mitte Juli lagen über 80 Klagen der Stadtverwaltung vor, die den Abriss von Wohnhäusern im olympischen Baugebiet fordert. Bis Oktober wuchs diese Zahl auf 226 an. Sechs Wohnhäuser wurden bereits dem Erdboden gleichgemacht, zehn mehrstöckige Bauten sind für den Abriss vorgesehen.

Aber das ist nur der Anfang. Für einen reibungslosen Ablauf stellen Gerichtsverfahren immer ein Hindernis dar, weil sie selbst in einem Land, in dem man schwerlich von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit sprechen kann, Zeit kosten. Deshalb sollen effektivere Methoden den Vorzug erhalten. Diesen Ansatz vertritt zumindest Alexander Tkatschew, der Gouverneur des Krasnodarer Gebiets, zu dem Sotschi gehört. In einer Reportage eines lokalen Fernsehsenders forderte er unverhohlen den Abriss aller störenden Gebäude ohne juristisches Drumherum. Die Gerichtsprozesse gegen die Betroffenen könne man auch im Nachhinein führen.

Diejenigen, die es bis Juli nicht geschafft haben, die ihnen von der Kommune zur Nutzung überlassenen Grundstücke als Privateigentum eintragen zu lassen, haben dagegen nicht einmal mehr theoretisch die Chance auf eine Klage. Die Stadtverwaltung ließ unter der Hand ein Bearbeitungsverbot von Privatisierungsanträgen verfügen. In der Praxis bedeutet dies, dass die Abfindungen minimal ausfallen werden und die Aussicht auf den Erwerb eines anderen Grundstücks damit gegen Null geht. Aber selbst nach Recht und Gesetz erworbenes und dokumentiertes Eigentum stellt keine Garantie auf eine Entschädigung in Höhe des rasant steigenden Marktwerts dar.

Die Abgeordneten der russischen Staatsduma leisten dabei ordentlich Beihilfe. Anfang Oktober kamen die Mitglieder des Ausschusses für Eigentumsfragen zu dem Schluss, das vom Wirtschaftsministerium ausgearbeitete Gesetzesprojekt zur Enteignung von Grundstücken im Vorfeld der Olympiade enthalte schwerwiegende Mängel. Sie bezogen sich mit ihrer Einschätzung in erster Linie auf die in dem Entwurf vorgesehene Verkürzung der gegenwärtig gültigen Jahresfrist, die zwischen der Mitteilung über eine Enteignung und deren Vollzug liegen muss.

Insbesondere die Enteignung von mit Wohnhäusern bebauten Grundstücken, die als einziger Wohnsitz dienen, wirft Fragen auf. Denn anstatt der bislang erforderlichen Bereitstellung gleichwertiger Grundstücke dürften dann Entschädigungen in Höhe des staatlich festgelegten Wertes gezahlt werden, der um ein Vielfaches unter dem Marktwert liegt. Der Ausschuss leitete seine Bedenken an den Wirtschaftsausschuss weiter, doch im Großen und Ganzen empfehlen die Eigentumsexperten die Verabschiedung der Gesetzesinitiative in erster Lesung. Das Gesetz könnte darüber hinaus später in ganz Russland Anwendung finden.

Maxim Rochmistrow, Mitglied des Ausschusses für Eigentumsfragen, bewertete die Vorgehensweise der Behörden in Sotschi bereits jetzt als in Teilen illegal, da der Abrisswelle nicht allein Gebäude zum Opfer fallen, für die keinerlei Baugenehmigung vorlag. »Wenn das so weitergeht«, verkündete er, »dann bekommen wir anstatt der Olympiade einen zweiten Kaukasus«.

Zwar wächst der Unmut in der Bevölkerung, aber von einer organisierten Bewegung gegen die Olympischen Spiele ist derzeit wenig zu sehen. Andrej Rudomacha, Koordinator der Organisation »Ökologische Wacht Nordkaukasus«, die sich gegen ungesetzliche Bauvorhaben im Naturschutzgebiet zur Wehr setzt, prognostiziert allerdings eine ansteigende Protestbereitschaft, da mit einem Entgegenkommen der Behörden nicht zu rechnen sei. »Wenn sich die Politik nicht verändert, wird sich die Situation radikalisieren«, äußerte er im Gespräch mit der Jungle World.

Die Winterspiele bereiten jedoch nicht allein der Bevölkerung Kopfschmerzen. Die selbsternannten Hüter von der »Bewegung gegen il­lega­le Immigration« warnten bereits vor einer Invasion. Nicht weniger als eine Million ausländischer Gastarbeiter würden für die anstehenden Bauarbeiten ins Land kommen, davon ein nicht unwesentlicher Teil aus der Türkei.

Aber es werden sicherlich noch mehr Arbeitskräfte benötigt. Offenbar um dieses absehbare Defizit auszugleichen, glänzte Alexander Zhukow, einer der fünf stellvertretenden Premierminister, die es seit der jüngsten Regierungsumbildung gibt, und Vorsitzender des Kontrollrats des russischen olympischen Organisationskomitees »Sotschi – 2014«, mit einem Vorschlag, der ganz im derzeitigen Trend liegt, die Jugend zu vereinnahmen. Mit Anklängen an die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, als Baubrigaden des sowjetischen Jugendverbandes Komsomol neben zigtausenden Gulag-Häftlingen im Osten der Sowjetunion eingesetzt wurden, möchte Zhukow einen Wettbewerb für studentische Baubrigaden initiieren. Die Sieger sollen mit einer Reise nach Sotschi prämiert werden, allerdings nicht als Zuschauer der Olympischen Spiele, sondern in ihrer Eigenschaft als qualifizierte und enthusiastische Baupioniere.

Olympia als Vision blühender Landschaften ist keine russische Erfindung. Doch Sotschi, so scheint es, kommt in Putins Russland ein besonderer Vorbildcharakter zu. Als nationales Prestigeprojekt soll es auch auf internationaler Ebene Eindruck machen und darf nicht an vermeintlichen Kleinigkeiten scheitern.