Avanti, Programm!

Die italienische Regierungslinke brachte am Samstag fast eine Million Menschen auf die Straße. Protestiert wurde gegen prekäre Arbeitsverhältnisse und Rentenpolitik. Lange wurde in linken Zeitungen darüber diskutiert, wie regierungskritisch die Demonstration ausfallen darf. Schließlich setzte sich die Linie des »kritischen Dialogs« mit der Mitte-Links-Koalition von Ministerpräsident Romano Prodi durch. Die außerparlamentarische Linke und die Basisgewerkschaften lehnten die Teilnahme letztlich ab, sie rufen für den 9. November zum Generalstreik auf. von catrin dingler, rom

Der Aufruf zur linken Großdemonstration am 20. Oktober sollte als Sturmwarnung gelesen werden: »Venti d’Ottobre«, titelte die linke Tageszeitung il manifesto in Anspielung auf revolutionäre »Oktoberwinde«. Auch die Parteizeitung der Rifondazione Comunista, Liberazione, bediente sich aus aktuellem Anlass des im Italienischen doppeldeutigen Titels, um die linke Leser- und Wählerbasis zu mobilisieren. Tatsächlich folgte am Samstag knapp eine Million Menschen dem Aufruf der beiden Zeitungen.

Vom Andrang der Massen überrascht, bliesen die Organisatoren jedoch nicht zum Sturm auf das römische Regierungspalais. Stattdessen marschierte ein Heer roter Fahnen hinter dem Banner »Wir sind alle ein Programm«. Schließlich sollte die Regierung von Ministerpräsident Romano Prodi nicht gestürzt, sondern nur daran erinnert werden, die prononciert linken Ziele des Mitte-Links-Bündnisses einzuhalten. Die roten Fahnen des alten PCI, die viele ältere Genossen dabei hatten, wurden demzufolge nicht vom revolutionären Eifer zum Flattern gebracht, sondern nur von der eiskalten tramontana, der Windströmung aus den Bergen. Eingehüllt in dicke Schals zog die Masse überwiegend schweigend durch die Straßen. Das alte Partisanenlied »Bella ciao« wurde nur vereinzelt und sehr verhalten angestimmt. Trotzig erhoben sich hier und da ein paar geballte Fäuste fürs Erinnerungsfoto. »Diese Regierung ist scheiße, aber es ist unsere Regierung!« Unter den wenigen selbstgemalten Plakaten, die zu sehen waren, traf dieses die Stim­mung wohl am besten. Und auf der abschlie­ßenden Kundgebung erwärmte ausgerechnet der Altkommunist Pietro Ingrao, 93 Jahre alt, die verlorenen Seelen, als er seinen kurzen Redebeitrag mit den Worten beendete: »Com­pagni, der Kampf geht weiter!«

Es ist ein Kampf, der in jeder Hinsicht von der puren Existenzangst getragen wird. Seit der Wahl des römischen Bürgermeisters Walter Vel­troni zum Generalsekretär der neu entstanden Demokratischen Partei hat der gemäßigte Flügel des Regierungsbündnisses an Popularität gewonnen. Die italienische Linke droht hinter diesem neuen liberal-reformistischen Block in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, zumal sie weiterhin in viele einzelne Parteien und Gruppierungen zersplittert ist.

So ging es auf der Demonstration vor allem für die beiden kommunistischen Parteien der Koalition, für Rifondazione Comunista und die Partei der italienischen Kommunisten, darum, ihre sozialpolitische Stellung zu halten, Präsenz zu zeigen. Mit Bussen und Sonderzügen waren Delegationen aus allen Regionen des Landes in die Hauptstadt gebracht worden, um mit ihren roten Parteifahnen den Demonstrationszug zu dominieren.

Ebenfalls zahlreich vertreten waren die Fahnen der größten linken Gewerkschaft Cgil. Denn immerhin war der erste Aufruf zur Demonstration bereits im Sommer erfolgt, als ein von der Regierung gemeinsam mit den Gewerkschaften und dem Industrieverband ausgehandeltes Papier zu arbeits- und rentengesetzlichen Themen, das so genannte Welfare-Protokoll, die Bestimmungen der rechten Vorgängerregierung bestätigte und nicht, wie im Wahlprogramm vereinbart, rückgängig machte. Während das Sozialpaket in einer Urabstimmung von der Mehrheit der abstim­mungs­berechtigten Arbeiter und Pensionäre angenommen wurde, sprachen sich einzelne Organisationen, insbesondere die Metallgewerkschaft der Fiom, deutlich gegen den von der Dachgewerkschaft Cgil mitgetragenen Kompromiss aus. Der Kritik der Metaller schlossen sich viele, von der gewerkschaftlichen Konsultation ausgeschlossene prekär Beschäftigte an. Dennoch lehnte die Führung der Cgil bis zuletzt Nachbesserungen des Sozialpakets kategorisch ab. Damit verschärfte sie nicht nur den innergewerkschaftlichen Konflikt, sondern geriet auch in Kollision mit den beiden kommunistischen Parteien, die infolge des lautstarken Unmuts in den Fabriken für eine Änderung des Welfare-Protokolls plädieren.

Wie verhärtet die Fronten derzeit sind, lässt sich daran erkennen, dass das Sekretariat der Cgil verlauten ließ, diejenigen Sektionen, die entgegen der ausdrücklichen Weisung der Gewerkschaftsführung auf der Demonstration das Logo der Cgil getragen hätten, zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Die Androhung ist ebenso bizarr wie die Vorstellung ihrer Kritiker, durch die Streichung des Arbeitsgesetzes »Legge 30« die Prekarisierung zu bekämpfen. Sowohl in der Gewerkschaft der Cgil als auch in den Parteien der Linken dominiert ein überkommener Arbeitsbegriff, mit dem die prekären Missstände beklagt, nicht aber emanzipativ bekämpft werden können. Fran­co Giordano, dem Vorsitzenden der Rifondazione, fiel denn auch am Ende der Demonstration nichts weiter ein als die Bitte an den Regierungschef Prodi, er möge »dieses Volk erhören« und die linke Wählerbasis seiner Koalition künftig nicht ganz vergessen. Und natürlich beschwor er seine linken Brüder zur »Einheit«. Doch auch diese wird wohl auf absehbare Zeit ein unerfüllter Wunsch bleiben. Denn ob sich die Herren der zahlreichen linken Parteien und Splittergruppen noch vor Jahresende zur Konstitution einer gemeinsamen »roten Sache« entschließen können, ist doch sehr fraglich. Außerdem ist längst nicht die gesamte Linke mit dem auf der Demonstration verteidigten Programm einverstanden.

Vor allem die lokalen Widerstandsgruppen, die im Norden Italiens seit Monaten gegen den Ausbau des US-amerikanischen Militärstützpunktes in Vicenza (»No Dal Molin«) und gegen die Hochgeschwindigkeitstrasse Turin-Lyon (»No Tav«) protestieren, hatten bereits im Vorfeld ihren Dissens bekundet und waren erst gar nicht angereist. Sie fühlen sich von den linken Parteien in ihrem Protest im Stich gelassen. Der Bruch zwischen der parlamentarischen und der außerparlamentarischen Linken zeigte sich jedoch vor allem in der Kritik der Basisgewerkschaften, der Friedensbewegung und der centri sociali. Sie hatten von Anfang an den institutionellen Charakter der Demonstration kritisiert. Den linken Parteien ginge es nur darum, ihrer inhaltlich nicht genauer definierten »roten Sache« eine machtpolitische Position links von der Demokratischen Partei zu sichern. Sozialpolitisch hätte sie der Prekarisierung aller Lebensverhältnisse durch die Politik des liberal-reformistischen Flügels der Regierung nichts entgegenzusetzen.

Die außerparlamentarische Linke hat deshalb für den 9. November zu einem Generalstreik aufgerufen, in dem regulär und prekär Beschäftigte, Studenten und Schüler durch gemeinsam organisierte Aktionen »die Produktion und den Warentausch in den Metropolen blockieren oder verhindern« sollen. Ohne die prekär Beschäftigten aus den Fabriken und Dienstleistungsunternehmen, denen die Bewegung am Samstag die Unterstützung verweigerte, wird dieser Protest jedoch kaum die erhoffte Ausbreitung erfahren.