Hey Alter, was für’n Milieu!

Die so genannte Sinus-Studie wirft einen differenzierten Blick auf migrantische Milieus in der Bundesrepublik. Von Daniel Steinmaier

Ausländer unterscheidet man gewöhnlich in Türken, Polen, Araber und Russen. Und eventuell zusätzlich in einige Untergruppen (Dealer, Islamisten, Scheibenputzer). Die neueste Studie über die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland zeigt, dass es auch etwas differenzierter geht.

Im Auftrag des Bundesfamilienministeriums und anderen Institutionen hat das Unternehmen Sinus Sociovisions die migrantische Lebenswelt in Deutschland in verschiedene Milieus unterteilt. Damit hat das Heidelberger Unternehmen Erfahrung. Seit 30 Jahren kartographiert es die deutsche Gesellschaft in verschiedene so genannte Sinus-Milieus, die Menschen anhand ihrer sozialen Lage, ihres Lebensstils und ihrer Einstellungen gruppieren.

Sinus Sociovisions hat im Gegensatz zu vielen Medien und manchem Politiker kaum Interesse an apokalyptischen Phantasien vom Untergang des Abendlands. Dementsprechend fällt das Bild, das die Milieu-Studie von den hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund zeichnet, relativ differenziert aus. Dennoch sind die Milieukonstruktionen nicht allzu weit von trivialen Klischees entfernt und spiegeln die übliche Unterteilung in gute und schlechte Ausländer wider.

Das Milieu, das sowohl hinsichtlich seiner sozialen Lage ganz unten als auch auf der Achse der Modernisierung ganz hinten steht, ist das »archaisch, bäuerlich geprägte Milieu«, das religiösen Traditionen verhaftet ist, ein patriarchalisches, antiindividualistisches Weltbild pflegt und in der »Parallelkultur« lebt.

Das »traditionelle Gastarbeitermilieu« erzielt spärliche bis mittlere Einkommen, strebt nach materieller Sicherheit und ist trotz traditioneller Familienwerte weniger lustfeindlich eingestellt als das archaische Nachbarmilieu. Wegen defizitärer Sprachkenntnisse bleibt die Integrationsfähigkeit beschränkt, auch wenn Deutschland zur »zweiten Heimat« geworden ist.

Materiell besser gestellt ist das »statusorientierte Milieu«, das aus kleinen Verhältnissen stammt und für sich und seine Kinder etwas Besseres erreichen will: Facharbeiter und Arzthelferinnen, die hart arbeiten und dies auch durch Statussymbole zeigen wollen, auch wenn sie dazu noch einen Nebenjob brauchen. Integration ist ihr Lebens­ziel.

Eine niedrigere soziale Lage hat das sozial und kulturell »entwurzelte Milieu« oftmals traumatisierter Flüchtlinge, die stark materialistisch orientiert und ohne Integrationsperspektive sind. Ausbildungs- und Einkommensdefizite gehen mit dem Gefühl der Deklassierung einher. Das »adaptive Integrationsmilieu« strebt dagegen nach Integration und individueller Selbstverwirklichung. Diese »pragmatische moderne Mitte der Migrantenpopulation« will ein harmonisches Leben, lebt in Kleinfamilien in Vierteln mit möglichst geringem Ausländeranteil und hat ein mittleres Bildungsniveau.

Hinsichtlich Bildungsniveau und Einkommen höher steht das »intellektuell-kosmopolitische Milieu«: Das »aufgeklärte, nach Selbstverwirklichung strebende Bildungsmilieu« steht auf postmaterielle Werte, strebt nach erfüllender Arbeit in sozialen Berufen, versteht sich als »Weltbürger« und grenzt sich vom schlechten Geschmack anderer ab.

Das »multikulturelle Performermilieu« ist das »junge, flexible und leistungsorientiertes Milieu mit bi- bzw. multikulturellem Selbstbewusstsein, das nach Autonomie, beruflichem Erfolg und intensivem Leben strebt«. Diese zeitgeistaffinen Trendsetter studieren BWL oder Informatik und suchen die Verbindung von materiellem Erfolg und lustvollem Leben.

Kaum »leistungs- und integrationsbereit« ist dagegen das »hedonistisch subkulturelle Milieu«, »die unangepasste zweite Generation mit defizitärer Identität und Perspektive«. Dieses Sorgenkind der Mehrheitsdeutschen sieht sich selbst als ausgegrenzten »Kanaken« und pflegt seine Underdog-Mentalität durch unangepasstes Verhalten. Man schwört auf Gott und Ehre, ohne diese Werte konsequent zu leben. Man gibt unkontrolliert Geld aus und ist notorisch pleite, da arbeitslos oder extrem prekär beschäftigt.

Die Studie geht davon aus, dass die fünf »leistungs- und integrationswilligen« Migrantenmilieus weitaus größer sind als die unangepassten Milieus. Insgesamt liege die »Leistungsbereitschaft« der Migranten deutlich höher als in der mehrheitsdeutschen Bevölkerung. Teile des »intellektuell kosmopolitischen Milieus« haben nach Meinung der Sinus-Forscher gar »das Potenzial, zu Leitgruppen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu werden«.

Als »Haupterkenntnis« der Studie wird die eigentlich triviale Feststellung gepriesen, dass sich entgegen rassistischer Stereotypen nicht von der Herkunftskultur auf das Milieu schließen lässt. Statt von religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit, so zeigt die Studie deutlich, sind Milieuzugehörigkeit und Integrationsgrad wesentlich abhängig von Bildung und sozialer Lage. »Das Klischee, dass ganze Teile der Migrantenbevölkerung von religiösem Fundamentalismus geprägt sind«, werde durch die Studie eindeutig widerlegt, meint Sinus Sociovisions. Im Sinus-Schema erscheint Religion allein als archaisches Relikt, das mit zunehmender Modernisierung zuverlässig verschwindet.

In Hinblick auf Geschlechterrollen zeigt die Studie, dass im überwiegenden Teil der Migranten­milieus traditionelle Rollenbilder vorherrschen. Die Milieus dagegen, in denen Gleichberechtigung ein zentraler Wert ist, decken sich mit den vergleichbaren Milieus der autochthonen Gesellschaft: Hier wie dort handelt es sich um die gut ausgebildeten Milieus höherer sozialer Lagen.

Vergleicht man die Migrantenmilieus mit den Milieus eingeborener Deutscher, fallen weitere Parallelen auf. Angesichts der Ähnlichkeit zwischen dem autochthonen Milieu der »modernen Performer« und dem der »multikulturellen Performer« fragt sich, ob es sich hier überhaupt noch um zwei verschiedene Milieus handelt oder doch vielleicht nur um eines: also schlicht um Integration, wie der Politologe Franz Walter auf Spiegel online vermutet.

Im Vergleich der Sinus-Milieus von Migranten und Autochthonen fällt überdies auf, dass seitens der Migranten Milieus fehlen: die traditionelle Oberschicht des konservativen Bildungsbürgertums und des selbstbewussten Establishments etwa.

Die kulturellen Differenzen unter den Zugewanderten – etwa zwischen »archaisch-bäuerlichem Milieu« und »multikulturellen Performern« – bilde eine breitere Spanne als die unter autochthonen Deutschen, da es für das archaisch-religiöse Milieu angeblich bei den Eingeborenen keine »quantitativ relevante Entsprechung« gäbe. Scheinbar sind die Sinus-Forscher in ihren 30 Jahren Milieuforschung doch noch nicht in alle Regionen Deutschlands vorgedrungen.