Schön war die Zeit

Wir sind die Opfer einer neoliberalen Verschwörung! Das behauptet Naomi Klein in ihrem neuen Buch und plädiert für einen nostalgischen Reformismus. von axel berger

Wer ist eigentlich die wichtigste »Ikone der Globalisierungs­kritiker«? Mit ihrem neuen Buch über den »Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus« sollte Naomi Klein dieser Titel kaum noch zu nehmen sein. Dafür dürfte nicht nur die ungewöhnlich aufwändige Werbekampagne sorgen, die für eine dezidiert linke wissenschaftliche Studie ungewöhnlich ist. So durften keine Vorabveröffentlichungen erfolgen, das Buch wurde in sieben Sprachen aufgelegt, es wur­de eigens ein Kurzfilm zusammen mit dem mexi­kanischen Filmemacher Alfonso Cuarón für die weltweite Lesereise gedreht, und selbst Guido Wes­terwelle fühlte sich bemüßigt, in der Welt einen Verriss zu schreiben. Vor allem stellt das Werk aber eine Zusammenfassung und in vielen Punkten auch eine Konkretisierung der Kritiken der »Bewegung der Bewegungen« an der Wirtschaftspolitik der vergangenen 30 Jahre, die häufig mit dem nebulösen Begriff des »Neoliberalismus« nur unzureichend beschrieben wurde.

»Die Schock-Strategie«, so der Titel des Buches, kommt anders als »No Logo«, das erste Werk der Kanadierin nicht rein moralisch-deskriptiv daher. Vielmehr versucht Klein, der ein ganzes Rechercheteam zur Seite stand, die Analyse einer Entwicklung vorzulegen, über deren Erschei­nungs­formen es kaum Zweifel geben kann: die Ablösung der in der Nachkriegsperiode domi­nierenden keynesianischen Wirt­schafts­­politik durch den Dreischritt aus Privatisierung, Senkung der Sozialtransfers und Deregulierung der Märkte samt der dazugehörenden Apologie und die aus diesen Vorgängen resultierende weitere Enteignung des Proleta­riats, dessen Bezeichnung als solches Klein aber scheut. Auf mehr als 700, mit einem langen Anmerkungsapparat versehenen Seiten und mit verschiedenen, mit Gewinn zu lesenden Fallbeispielen von Chile bis zum Irak versucht sie, den Nachweis für ihre These zu erbringen: Diese Entwicklung sei ein gesteuertes Projekt, an dessen Anfang stets ein die Gesellschaft paralysierendes Schockereignis stehe und das immer mit einer autoritären Formierung des Staats einhergehe, um den potenziellen Widerstand gegen ein nur einer winzigen Oberschicht nützendes Projekt schon im Keim ersticken zu können.

Die Metapher der Folter, die Klein für diesen Prozess heranzieht, hat bereits viele Einwände nach sich gezogen. Und auch gegen andere Argumente wird sicher noch Einspruch erhoben werden. Dennoch sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass sich Stärken und Schwächen des Ansatzes gleichermaßen in dieser zentralen These selbst wieder finden. Vor allem das Aufräumen mit der Illusion, wirtschaftliche Liberalisierung gehe mit politischer Demokratisierung einher, macht das Buch lesenswert. Nicht nur der »Ruf nach mehr Demokratie und mehr Kontrolle der Märkte« wird ja immer häufiger erhoben. Auch das Aufzeigen der Prozesse anhand der Fallbeispiele verdeutlicht, dass die Ideologie von »mehr Demokratie und mehr Markt« für die Zeit seit den siebziger Jahren keinerlei Gültigkeit beanspruchen kann.

Das ist das Verdienst des Buches. In ihrer völlig unkritischen Haltung zum keynesianischen Modell übersieht Klein jedoch häufig, dass der Kapitalismus auch in der Nachkriegsepoche über Leichen ging. Für die Autorin scheint diese Tatsache eher eine Verirrung als systemisch begründet gewesen zu sein.

Fatal mutet bei genauerer Lektüre an, wie die Ursache der »neoliberalen Wende« aufgezeigt wird. Denn sie ist für Naomi Klein vor allem mit einem Namen verbunden: Milton Friedman. Es ist eine eigenartig verschwörungstheoretische Vorstellung, auch wenn die Autorin dies an mehreren Stellen bestreitet. Klein geht davon aus, dass die »Chicago Boys« etliche Institutionen von der Weltbank bis zur US-Regierung ohne erkennbare Notwendigkeit gekapert und die absolute Hegemonie in den Wirtschafts­wissenschaften errungen hätten. Im Feldversuch hätten sie Volkswirtschaften im Sinne ihrer angebotsorientierten Theorie umgewandelt – mit fatalen Folgen für die Menschen.

Die These ist ebenso einfach wie attraktiv, bietet sie doch die Möglichkeit, die Rede vom Sachzwang in der herrschenden Politik agitatorisch geschickt zurückzuweisen. Denn es fällt nicht schwer, den Aufstieg der monetären Pro­ta­go­nis­ten zu verfolgen und ihnen die eine oder andere Verschwörung nachzuweisen, wie im Falle des Putsches in Chile, an dem Friedmans Gang entscheidenden Anteil hatte. Ob es sich hier allerdings um die Ursache oder aber nur die Wirkung ganz anderer Entwicklungen handelte, die den keynesianischen Nachkriegskonsens geradezu torpedieren konnten, kann so nicht geklärt werden, obwohl dies geschickt suggeriert wird.

Kleins Annahme steht und fällt daher mit der Behauptung, fundamentale Krisen seien nicht etwa Produkte der Wirtschaftsordnung gewesen, sondern politisch geschaffen worden. Erst nach dieser Erbsünde seien die tiefen ökonomischen Krisenerscheinungen in die Welt des Kapitalismus zurückgekehrt. »Je mehr die Welt Friedmans Rezepten folgte«, schreibt die Autorin, »desto krisenanfälliger wurde das System und produzierte mehr und mehr GAUs, die Friedman als die einzigen Umstände identifiziert hatte, unter denen Regierungen noch mehr auf seine radikalen Ratschläge hören würden.« Diese Sichtweise wiederholt zunächst ohne Reflexion einfach die vor 40 Jahren vor allem durch Paul Samuelson zu Popularität gelangte Feststellung, dass die »gemischten Wirtschaftssysteme« der Nachkriegsära sich als krisenresistent erwiesen hätten, eine These, die immerhin durch die Erfahrung des »Goldenen Zeitalters« gedeckt zu sein schien.

Während nachfrageorientierte Ökonomen solche Aussagen heutzutage peinlich berührt verschweigen, findet sich auf den über 700 Seiten von Kleins Buch kein Wort darüber, dass der Siegeszug der »Neoklassik« nur wegen des Bankrotts des »gemischten Wirtschaftssystems« in den siebziger Jahren stattfinden konnte. Die nicht aus Jux und Dollerei erfolgte Kündigung des Bretton-Woods-Systems 1971, die hohe Inflation, die dramatische Verschuldung der öffentlichen Haushalte und nicht zuletzt die auch durch das deficit spending nicht aufzuhaltende Zunahme der Arbeitslosigkeit – kein Wort darüber findet sich in »Die Schock-Strategie«.

Ärgerlich ist, dass keine der zahlreichen, Naomi Klein mit Sicherheit bekannten Studien zu diesem Thema auch nur irgendeine Erwähnung erfahren. Hier wird eine methodische Schwäche offensichtlich. Mit den Prognosen Paul Matticks beschäftigt sich Klein nicht. Mattick, der wohl wichtigste marxistische Kenner der Materie, sagte, dass die Akkumulation langfristig nur durch die Zunahme des Anteils der produktiven gegenüber der unproduktiven staatlichen Arbeit und die Hebung der Durchschnittsprofitrate aufrechtzuerhalten sei. An zentraler Stelle in Kleins Buch werden die marxistischen Krisentheoretiker abgeurteilt: als »sektiererische Linke«, die eigentlich die Vorgänger der »Chicago Boys« gewesen seien.

Das Urteil ist natürlich politisch opportun. Nicht zuletzt wegen dieser Unverdächtigkeit in revolutionärer Hinsicht wird »Die Schock-Strategie« wohl den Titel erhalten, den die New York Times schon »No Logo« gegeben hat: »Die Bibel der Globalisierungskritiker«. Aber sollte der neue Reformismus, den Klein befürwortet, an die Macht gelangen, wird er wohl auch lediglich unter Beweis stellen, dass die Zeit des Keynesianismus längst vorüber ist. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Menschen nach dem erneuten Scheitern verstanden haben werden, dass die Verschwörung aus der Krise erwächst und nicht umgekehrt.

Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2007, 763 S., 22,90 Euro