Folgen Sie dem roten Schal!

Der Parteisoldat ist abgetreten. Ein neues Kapitel der Deutschland-Saga beginnt. von georg seesslen

Was bisher geschah: Nach der langen, langen Herrschaft des dicken Königs Kohl hatten die New Boys den Hof übernommen, SchröderFischerScharping, deren erstes Projekt es war, sich vor aller Augen von einer Truppe spielender Lausbuben in die verantwortlichen Männer zu verwandeln, die eine hysterisch bewusstlose »Spaßgesellschaft« durch den Ernst der Umbaukrise von Neoliberalismus und Globalisierung führen sollten. Das Erwachsenwerden in Kriegen, Pleiten und Armani-Anzügen hat nur teilweise geklappt; spätestens im Nachhinein wurde klar, dass man da in eine Herrschaft der Hofnarren des kapitalistischen Bürokratismus und der militarisierten Diplomatie geraten war.

Als erster hatte sich Scharping als dummer August geoutet und taucht seitdem öffentlich nur noch auf, wenn wieder was Spaßiges passiert – vom Rad fallen oder von der eigenen Frau öffentlich rechts überholt werden, zum Beispiel. Schröder zeigte sich als weißgesichtiger Clown der Konzerne, der mit suboptimalen Ergebnissen sein »Basta« in die Manege schleuderte, und macht heute Undurchsichtiges im Dienst eines Mannes, den er als »lupenreinen Demokraten« bezeichnet hat und damit womöglich als klamm­heimliches Herrschaftsideal: wie aus einem lausbübischen New Boy ein autarker Industriediktator wird, über den niemand lacht, wenn er »Basta« sagt. Währenddessen grüßte der narzisstische Welt-Pierrot Fischer vom Drahtseil ins Publikum und musste immer mal wieder zu sich selber laufen, wenn er innerlich oder äußerlich drohte, endgültig alle Form zu verlieren.

Drei Modelle der Herrschaft in diesem Trio, die eine gemeinsame Ursache und ein gemeinsames Ziel hatten: Die Ursache war das Einschreiben eines neuen, mobilen und vor allem schizophrenen Mittelstands ins System der Herrschaft (inklusive einer bizarren Rettung der Gleichung von Männlichkeit und Macht). Das Ziel war die Transponierung des Sozialstaates und des Kapitalismus mit menschlichem Antlitz in eine Verbindung von Konzernherrschaft, Überwachungsstaat und Bürokratie.

Am Ende hatten die New Boys zwar ein Modell dafür geliefert, wie man Hedonismus, Macht und Verantwortung zur prekären Einheit bringt, aber sie hatten fachgerecht im Dienst der Sache, nämlich den Laden am Laufen zu halten, auch das eigene Publikum vertrieben. Das große Projekt der Putinisierung der Demokratie aber war auf den Weg gebracht, wenngleich noch als einigermaßen frivoles Spiel, oder, wahlweise, bittere Notwendigkeit einer gewissen Agenda für den Krieg gegen die Habe- und Taugenichtse in der eigenen Gesellschaft.

Und so begann die Herrschaft des Alten Mädchens und des Parteisoldaten unter dem Motto: »Schluss mit dem Zirkus«. Das Alte Mädchen sorgte für Ruhe, eine Art der zwanghaften Harmonie, auf die Dialektik von Basta und Tortenschlacht folgte der moralisierte politische Alltag, und der alte Parteisoldat führte den Diskurs von Pflicht und Notwendigkeit. Folgt dem roten Schal, und alles wird, wenn nicht gut, so doch auf keinen Fall unerträglich. Auf die Herrschaft der aufgeregten New Boys sollte die Herrschaft der beruhigten Notwendigkeit folgen. Ein perfektes, wenn auch nicht unbedingt glückliches Herrscherpaar, das den Familienfrieden allerdings gegen zwei Bedrohungen verteidigen musste, gegen die rüpelige Verwandtschaft aus dem Süden und gegen die Missgunst von Onkel Bräsig.

Was das erstgenannte anbelangt, so hatte Angela Merkel schon längst die entsprechende Formel ausgegeben, lange bevor Stoiber sich beleidigt zurückzog, indem sie launisch die beiden Lebensformeln »Mir san mir« für den Süden und »Wat mutt, dat mutt« für den Rest des Landes ausgab. Netter kann man der Verwandtschaft nicht sagen: Bleibt, wo ihr seid, und lasst uns machen. Lästiger waren schon die ständigen Attacken von Onkel Bräsig, der in allem das Gegenteil des alten Herrscherpaares ist. Weil es ihm um die Macht geht, schert er sich nicht um den Familienfrieden. Und weil er gar nichts verkörpert außer sich selbst (dies aber in leicht überzogenem Ausmaß), ist seine Langeweile so provokativ wie seine Provokationen langweilig. Ein Störenfried ohne Substanz – und doch so sehr Prophet des kommenden Markt-Stalinismus wie unser Doktor Seltsam, der verbissen an einem weiteren Aspekt der Putinisierung arbeitet: Das Volk muss nicht nur mit den richtigen Bildern der Herrschaft versorgt werden, es muss auch überwacht werden.

Nun also verließ der Parteisoldat die Regierung, aus einem menschlich anrührenden Grund, mit dem er seinen Mythos zugleich erfüllt und aufhebt. Denn natürlich funktioniert das Pflichtgefühl, die Standhaftigkeit, das Regiment der Vernunft nur, weil es einen Kern des Menschlichen und, ja, der Zärtlichkeit umhüllt. Bemerkenswerterweise löst nun aber gerade diese Geste des Menschlichen um den scheidenden Parteisoldaten herum einen Wellenkreis der politischen Niedertracht aus, der noch dem härtestgesottenen Beobachter weh tut. Erst einmal wird spekuliert, ob diese Geste des Menschlichen überhaupt echt ist oder ob sich dahinter nicht das Eingeständnis verlorener Machtkämpfe verberge. Onkel Bräsig, wer sonst, steckt auch hier dahinter, der sich ansonsten nicht scheut, ganz öffentlich von seinem Machtkalkül zu sprechen. Er bekundet in etwa, er könne sich nicht an den Tisch des Alten Mädchens setzen, weil ja die Möglichkeit bestünde, dass sie ihn desselben verwiese! Onkel Bräsig also bleibt der Familienversammlung fern, weil er unter keinen Umständen mitmachen will, wenn er nicht selber die Familiengeschäfte übernimmt. Besser kann man den Unterschied nicht klarmachen: Der Parteisoldat sucht die Aufgabe, sucht den Platz, an den er gestellt wird, und in gewisser Weise sucht er sogar die Niederlage, die ihn adelt. Der intrigante Onkel dagegen inszeniert sich jenseits, er umschleicht das Haus, er kann nur gewin­nen, wenn das Ganze erst einmal kaputtgeht. Hin­ein schickt er stattdessen seinen Neffen, den Musterknaben, der so wonniglich strahlen kann und der, so scheint es, nie etwas falsch macht und nicht einmal richtig böse wird, wenn ihm die anderen immer und immer wieder die Show stehlen. Wenn Steinmeier in der Welt etwas zu erreichen versucht, reißt es mit schöner Regelmäßigkeit das Alte Mädchen wieder ein, da sie die moralischen Diskurse, Klimaschutz, Menschenrechte, Dalai Lama, als Wesenskern ihrer Herrschaft darstellen muss. Aber steckt nicht im Grinsen eines jeden Musterknaben das »Wartet nur … «?

Natürlich ist nicht nur zwischen dem Musterknaben und dem Alten Mädchen, sondern auch zwischen ihm und Onkel Bräsig der nächste Konflikt vorbereitet. Denn jetzt stehen sich zwei Möglichkeiten gegenüber: die Profilierung des Musterknaben innerhalb der Familie, einer, der mit sichtlich weniger Leiden als der Parteisoldat seine Pflichten erfüllt und der paradoxerweise nur wachsen kann im Blick des Alten Mädchens, und die Profilierung des intriganten Onkels außerhalb von ihr, der sich freilich den Luxus leisten kann, die Defizite der Familienherrschaft zu benennen, der sich an ihnen nicht mitschuldig zu machen oder sich daneben zu benehmen braucht, um sie zu Instrumenten zu machen.

Zur Welle der politischen Niedertracht, die der Rücktritt des Parteisoldaten ausgelöst hat, gehört sicher auch das sonderbare Retro-Foul, das Pastor Zauselbart dem dicken König Kohl gewidmet hat, der es an einer ähnlich menschlichen Geste einst definitiv hat fehlen lassen. Natürlich will Pastor Zauselbart das so weder gesagt noch gemeint haben, wahrscheinlich ist es wieder die Presse, die für die wirkliche Niedertracht zuständig ist. Wenn es persönlich gemeint war, handelt es sich freilich um eine Art Nachtreten, in einem Modell der symbolischen Politik steckt aber vielleicht doch etwas mehr dahinter.

Denn vielleicht verhält es sich ja so, dass wir es mit zwei prinzipiellen Figuren der politischen Herrschaft zu tun haben. Die eine, wofür der Parteisoldat steht, kann als »Politiker des Leidens« betrachtet werden. Er muss. Er fühlt sich von der Geschichte, von den Verhältnissen, von der Gerechtigkeit oder eben auch von seiner Partei gerufen, und er nimmt seine Aufgabe an, obwohl er (oder sie, natürlich) weiß, dass darin ein doppelter Verrat stecken muss, nämlich einerseits der Verrat der Praxis am Ideal, und andererseits der Verrat der Politik an der Biographie. Der Politiker des Leidens weiß, dass er zu wenig Zeit mit seiner Familie verbringt, dass er über der Arbeit das Leben vergisst und vielleicht sogar über dem Funktionieren den Sinn. Aber er kann nicht anders, und eben dieses Element der Selbstbezwingung macht seine Glaubwürdigkeit aus. Wir vertrauen dem Politiker des Leidens gerade wegen seiner Schizophrenie und im Glauben, das verdrängte Menschliche werde nie wirklich verschwinden.

Der andere Typus des Politikers, und dafür war in der Tat der dicke König Kohl ein Musterbeispiel, kann als »Politiker des Genusses« bezeichnet werden. Er will. Er (oder sie, natürlich) lässt nicht etwa das private Glück hinter sich, sondern findet im Gegenteil persönliches (und ja, wohl auch sexuelles) Glück erst im Genuss der eigenen Macht; er fühlt sich von der Geschichte, von den Verhältnissen oder von seiner Partei nicht »gerufen«, sondern empfindet dies alles als sein natürliches Eigentum. Verrat wäre für diesen Politiker nur ein Nachlassen im Kampf um die Macht, jenes eigentliche Leben, das der Politiker des Leidens mit Schmerzen hinter sich lässt oder als verborgene Hoffnung hegt, hat für ihn nie existiert. Die menschliche Geste also, die griesgrämig und ein wenig tückisch von Pastor Zauselbart oder seinem Medienecho retrospektiv eingefordert wäre, hat der dicke König nicht etwa verweigert, sie kommt in seiner Weltsicht gar nicht vor.

Dass übrigens die Politiker des Genusses persönlich zur Korpulenz neigen und die Politiker des Leidens eher von hagerer Gestalt sind, mag phänotypisch durchaus konsequent sein, genotypisch aber ist es keineswegs zwingend. Es gibt durchaus korpulente Politiker des Leidens und hagere Politiker des Genusses, nur ikonographisch macht sich’s anders besser. Doch am Ende geht es nicht darum, wie Genussmenschen Politik machen, sondern darum, wie Menschen Politik genießen.

Der Politiker des Leidens benötigt die Niederlage so sehr, wie der Politiker des Genusses den Triumph benötigt, und beide, sofern sie eine gewisse Reife erreicht haben, erlangen das Ihre mit traumwandlerischer Sicherheit. Und mit eben solcher Sicherheit gieren wir, das Volk, zugleich Material und Metaphysik der (nun ja: demokratischen) Herrschaft, nach je angemessenen Kompositionen von Genuss und Leiden in der Politik, zwischen dem Müssen und dem Wollen in der dynamischen Ordnung, die wir uns gegeben sehen wollen.

Auch das macht im Übrigen die familiäre Struktur der demokratischen Herrschaft aus. Nur in einer familiären Struktur sind Genuss und Leiden so aufeinander zu beziehen, dass keines zu gefährlicher Krankheit oder Wahn führt. Da ist einerseits der Genuss des einen das Leiden des anderen, und andererseits beschränken sich Genuss und Leiden im wechselseitigen Rollenspiel. Modelle dafür gibt es zuhauf: ein Zentrum des Genusses, um das sich eine Peripherie des Leidens fügt (die Herrschaft des dicken Königs); ein ständiges Changieren und inneres Austarieren (bei den New Boys) und schließlich ein dialektisches Paar in der Herrschaft des Alten Mädchens und des Parteisoldaten. Damit unterstellen wir im Übrigen, dass Angela Merkel eine Politikerin des Genusses ist, was schließlich bestätigt, dass sie eine politische Ziehtochter des dicken Königs, ja möglicherweise auch seine gespenstische Erbin ist. (Alte Mädchen, das haben sie so an sich, begründen ihre Herrschaft gern auf einem abwesenden Vater.)

Nun also fehlt ein Zentrum des Leidens, und die Welle der Niedertracht, die sich um die menschliche Geste des Parteisoldaten gebildet hat, indiziert vor allem eines: Die Familie wird nicht mehr durch ein inneres Gleichgewicht von Lust und Opfer zusammengehalten, sondern von einem äußeren Gleichgewicht des Machtkampfes. Im Zentrum ringen nun drei Politiker des Genusses, das Alte Mädchen, Onkel Bräsig und der Musterknabe, um die Macht von morgen. Ausschlaggebend für Triumph oder Niederlage ist einerseits, wer sich am ehesten mit einem Gegen­aspekt des Leidens verbinden kann, andererseits aber auch, wer in der Putinisierung der Demokratie am meisten voranschreitet. Eine Wahl schließlich kann man durch Sympathie, durch Parolen des Versprechens oder durch die Akkumulation von Macht gewinnen. Am besten natürlich durch eine Mischung von alledem. (Freilich lässt auch uns die Welle der Niedertracht nicht unberührt: nur noch Machtkampf und Bosheit? Wo sollen wir mit unserer Sehnsucht nach Geborgenheit hin, die uns das Alte Mädchen und der Parteisoldat gemeinsam doch wenigstens ein bisschen erfüllten?)

Die menschliche Geste des Parteisoldaten und die Welle der Niedertracht, die sie ausgelöst hat, beenden ein Modell der symbolischen Herrschaft, ungefähr so, wie das Ende des Slogans »Geiz ist geil« eine symbolische Konzeption des Marktes abschließt. (Der Geiz und die Geilheit, um es genauer zu sagen, gehen wieder getrennte Wege.) Im nächsten Kapitel werden die moralischen Attitüden des Alten Mädchens, die sozialen Scheinattacken von Onkel Bräsig und das Honigkuchen-Grinsen des Musterknaben verschwinden. Das Kapital verlangt nach mehr Macht (die äußere Form ist ihm ungefähr so egal, wie sie uns auf Trab hält, denn genau das ist unsere Wahl, Tag für Tag: zwischen der Hoffnung auf Genuss und der Gewissheit des Leidens).

Um eben dies geht es in der symbolischen Herrschaft: Öffentlich zu machen, dass die Unterwerfung des Menschen unter den Markt (oder was ihm folgt: die putinisierte Produktion der Konzerne, von denen man nicht mehr weiß, ob sie dem Staat gehören oder der Staat ihnen gehört) von zwei Triebkräften bestimmt wird, vom vernünftigen Leiden und vom breiten Genuss. Weil eines immer nur am anderen scheitert, zeugt sich das System mehr oder weniger unendlich fort. Und so haben wir, wenn schon nichts zu lachen, so doch immer was zu erzählen.