Zukunft auf dem Sofa

Immer mehr Kinder in Deutschland sind nicht nur arm, sondern auch krank. Psychische Probleme sind vor allem in der Unterschicht weit verbreitet. von jana brenner

Vielen Kindern und Jugendlichen geht es schlecht. Richtig schlecht. In den einschlägigen Internetforen finden sich häufig Sätze wie »Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz« oder »Regen ist gut, weil man deine Tränen nicht sieht« unter den Usernamen. Es geht um ausgekotztes Essen, aufgeritzte Haut und Heulattacken in der Einsamkeit des Kinderzimmers.

Kinder- und Jugendpsychologen machen schon lange darauf aufmerksam, dass ihre Klientel immer zahlreicher wird. Seit kurzem gibt es erstmals repräsentative Zahlen zu dem Thema. Das Gesundheitsministerium und das Bildungsministerium hatten das Robert-Koch-Institut mit der »Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland«, kurz KIGGS, beauftragt. Die Forscher tingelten drei Jahre lang durchs Land und untersuchten fast 18 000 Mädchen und Jungen. Für die Unterstudie »Bella« fragten sie in fast 3 000 Familien mit Kindern zwischen sieben und 17 Jahren gezielt nach seelischen Störungen. Ihr Ergebnis: Bei satten 22 Prozent der Kinder und Jugendlichen finden sich »Hinweise auf psychische Auffälligkeiten«.

Die Studie erfasste auch die Lebensumstände der Kleinen. Und siehe da: Kinder aus armen Familien sind häufiger krank. »Die am schwersten wiegende Erkenntnis ist, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien nicht nur in einzelnen Bereichen von Gesundheit und Lebensqualität schlechtere Ergebnisse aufweisen, sondern in durchweg allen«, teilte das Robert-Koch-Institut mit. Arme Kinder sind nicht nur öfter dick, krank und geraten häufiger in Unfälle. Sie sind auch den Umweltbelastungen stärker ausgesetzt und anfälliger für seelische Störungen, hieß es in der Auswertung weiter.

Ängste, Depressionen, Essstörungen – meist führen mehrere Auslöser zu solchen Krankheiten. Tägliche Konflikte in der Familie gepaart mit einem niedrigen sozioökonomischen Status vervierfachen nach Angaben des Deutschen Kinderhilfswerks das Risiko, psychisch zu erkranken. Betroffene Kinder kommen meist aus Familien, in denen Gewalt ausgeübt wird, in denen ein Elternteil fehlt oder die Erwachsenen selbst psychisch krank sind. Hinzu kommt die materielle Armut. »Die Erwachsenen sind oft so sehr mit der Existenzsicherung beschäftigt, dass sie einfach nicht mehr die seelische Kapazität haben, den Kindern den nötigen Rahmen zu geben«, sagt Christa Schaff vom Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie.

Armut kann schlichtweg verrückt machen, wobei die Betonung auf dem Wörtchen »kann« liegt. »Natürlich ist es immer schwer, am Existenzminimum zu leben«, sagt Helene Timmermann von der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, »aber es gibt auch Eltern, die das trotzdem sehr gut hinkriegen.« Die »Bella«-Studie zeigt allerdings, dass diejenigen, die es offensichtlich nicht schaffen, meist klassische Vertreter der Unterschicht sind.

Therapeuten für Kinder und Jugendliche gibt es keineswegs ausreichend. Sie »fehlen insbesondere dort, wo sie am Dringendsten gebraucht werden. Dramatisch ist die Lage in ländlichen Gebieten und sozialen Brennpunkten«, heißt es bei der Bundespsychotherapeutenkammer. Kinder und Jugendliche warteten »häufig wochen- und monatelang auf eine psychotherapeutische Behandlung«. Insbesondere in Ostdeutschland »sieht es extrem schlimm aus«, sagt Helene Timmermann. Manchmal stellt sich allerdings he­raus, dass Kinder selbst dann nicht zur Therapie kommen können, wenn sie einen Platz haben. »Es gibt immer wieder Fälle, in denen sich die Eltern das Busgeld nicht leisten können. Das übernimmt keiner«, sagt Christa Schaff.

Doch viel häufiger scheitert es mit der Behandlung schon daran, dass die Probleme gar nicht erst erkannt werden. Längst nicht alle Ärzte erkundigen sich bei den Früherkennungsuntersuchungen nach psychischen Auffälligkeiten. »Wenn sie dann was feststellen, sagen immer noch zu viele: Machen Sie sich keine Sorgen, das wächst sich raus«, erzählt Timmermann. Dass psychische Störungen bei Kindern viel zu selten erkannt und behandelt werden, stellt auch der Bundesverband der Psychologinnen und Psychologen in seinem aktuellen Bericht zur Kinder- und Jugendgesundheit fest. Spezifische Ansätze zur Prävention gebe es einfach nicht.

Und mit einem psychischen Problem geht man eben nicht so schnell zum Arzt geht wie mit einer Grippe. »Die Scheu, seine Kinder zum Psychologen zu schicken, ist sehr groß«, sagt Timmermann. Hier sei ebenfalls ein Unterschied zwischen arm und reich sichtbar: »Während es in einigen Kreisen schon zum guten Ton gehört, sich in Therapie zu begeben, haben Eltern aus unteren Schichten damit erheblich mehr Probleme.« Der Gang zu einer Beratungsstelle sei da schon einfacher. »Solche Angebote müssen ausgebaut und noch bekannter gemacht werden«, sagt Timmermann. »Außerdem brauchen wir mehr aufsuchende Hilfe, allerdings nicht so, dass sich die Eltern kontrolliert fühlen«, meint Christa Schaff. Das Jugendamt sei nicht unbedingt die richtige Stelle, »das ist noch immer bei vielen sehr negativ besetzt«.

Nun werden Kinder ja gerne als die Zukunft des Landes bezeichnet. Degeneriert der »Standort Deutschland« also zu einem Sanatorium voller depressiver und antriebsloser Hartz X-Empfänger, die noch nicht einmal in der Lage sind, einen Ein-Euro-Job anzunehmen? Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ist der Sache bereits auf der Spur. Am »Welttag für seelische Gesundheit« warnte sie, dass »psychische Erkrankungen inzwischen zu den Hauptursachen für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung zählen«. Nur fehlen konkrete Vorschläge noch. »KIGGS wurde ja vor allem deswegen gemacht, weil man genau wissen wollte, was los war«, sagte eine Sprecherin des Ministeriums auf Nachfrage. Genaueres gebe es dann im nächsten Jahr. Man habe bereits die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung »angewiesen, diesen Bereich schwerpunktmäßig auszubauen«. Außerdem mache das Ministerium Geld für »Projekte« wie das »Aktionsbündnis für seelische Gesundheit« locker. Eine »ausgeprägte Kinderkomponente« habe das Bündnis jedoch nicht.

Und das, wo doch das Potenzial der lieben Kleinen schon unter der alten Regierung erkannt wurde. In der Stellungnahme zum 12. Kinder- und Jugendbericht schrieb sie: »Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts soll zum Jahrzehnt der Kinder und ihrer Familien werden. Hier liegt die Zukunft der Gesellschaft.« Das war im Oktober 2005. Neun Monate vorher hatte Rot-Grün Hartz IV eingeführt. Seitdem hat sich die Zahl der Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben, auf 2,5 Millionen verdoppelt.